Letzte Fischer
müsste Robert die letzten Törns der Saudade nicht miterleben. Er bräuchte die letzten Hols nicht zu verarbeiten. Er hätte abgemustert und könnte sich das Ende der internationalen Hochseefischerei von außen ansehen, waren die Ozeane doch ohnehin bald leergefischt. So wäre er bereits ein Fischfarmer, wenn die anderen Fischer arbeitslos wurden, und so hätte er Mathilde an seiner Seite, Tag für Tag, Stunde um Stunde.
Sie könnten sich an langen Kaminabenden ihre Kindheitsgeschichten erzählen. Sie könnten mit dem Verschweigen und Verdrängen aufhören und auch die letzte Barriere überwinden: Sie könnten sich endlich einmal den Dreck der Kindheits- und Jugendtage aus den Seelen klopfen und vor die Tür kehren. Bis zur Steilküste! Und den Rest würde dann der Ostseewind schon erledigen, auf den wäre schon Verlass, da hatte Robert überhaupt keine Sorge. In drei Jahren war er vierzig Jahre alt, aber wollte er so ein Leben von Herzen? War so ein Leben für ihn erstrebenswert? Für einen echten Kerl? Wäre solch ein Leben nicht das Dasein eines Amputierten? Eines Seemannes, dem man bei lebendigem Leibe die Seele abgezogen hätte, diese dicke und verlässliche Salzkruste, durch die keine Küchentischpsychologie drang?
Robert Rösch tastete, doch noch bewegten sich die Augen der Seefledermaus viel zu hektisch.
›Die See ist die Seele‹, dachte der Verarbeiter: ›Und die Seele ist die See.‹
Vom Gefühl her sprach natürlich eine ganze Menge dafür, auf der Saudade zu bleiben. Eben nicht in diese Aquakultur einsteigen zu müssen, das war wohl der wichtigste Grund. Auf der Saudade wussten die Männer, was er wert war. Das war eine Lebensleistung, eine echte Leistung!
Hier konnte er auch seine Jungenträume vom wilden Meer ausleben. Er musste sich nicht verstellen, er konnte ehrlich bleiben. Ja, verdammt, er hatte den Luxus, zwei Heimstätten zu haben, von denen die eine unentwegt unterwegs war. Er war von Kollegen umgeben, die ihm vertrauten. Das war eine Ehre, eine große Ehre. Hier musste er alles andere als erwachsen sein. Er hatte die Freiheit, ein verdammter Junge unter Jungs zu sein, ein Pirat unter Piraten, ein Peter Pan, der unbesiegbar war, solange er eben an Bord des Trawlers blieb. Er musste nicht selbständig sein, er brauchte keine Verantwortung für andere zu tragen. Seine einzige Aufgabe waren das Häuten und das Verarbeiten. Verdammt, es war trotz der harten Arbeit ein bequemes Leben. Frei von Entscheidungszwang war es bisher gewesen, doch nun war er doch in die Ecke getrieben worden. Er hatte ein verdammtes Privatproblem mit an Bord gebracht, obwohl sie sich auf dem Trawler doch immer wieder warnten: Lass deinen Scheiß zu Hause, bring ihn bloß nicht die Gangway mit hoch, sonst gehen wir alle drauf!
Dagegen hatte er nun also verstoßen. Eine verdammt clevere Ehefrau, die er da hatte! Ihm diese Fischfarm zu zeigen, das war verdammt geschickt gewesen, hatte er so doch nicht sofort ablehnen können, als sie ihn kurz vor der Abreise fragte, ob er nicht Fischwirt werden wolle.
Und nun?
Nun ja, es half nichts. Es war wie es war. Verarbeiter Robert Rösch versuchte, die Herzensdinge herauszuhalten, denn das wollte er auf keinen Fall auf dieser blöden Liste wissen: die Liebe zu Mathilde und die Liebe zum Meer mit Plus- oder Minuszeichen versehen.
»Verdammt noch mal«, sagte Robert zu seinem vorerst letzten Opfer: »Was waren das noch für Zeiten, von denen uralter Richard so oft erzählt. Dieses Funkerehepaar auf der Jungen Welt , die zusammen im Funkraum arbeiteten. Das wäre doch die Lösung! Damals, in dieser DDR, als die Frauen an den Fließbändern arbeiteten und die Männer auf dem Oberdeck. Die hatten sich nie groß entscheiden müssen. – Nun ja, es ist wie es ist.«
Ihm grauste davor, sich diese Fragen nun Tag für Tag stellen zu müssen und sich fünf lange Monate nicht entscheiden zu können. Gäbe es doch eine dritte Möglichkeit!
Robert Rösch zog erneut den Handschuh aus, prüfte kurz und hielt den richtigen Moment für die Häutung für gekommen. Als er jedoch die Schnitte setzte, stutzte er. Die Stacheln richteten sich nicht auf.
Robert Rösch erledigte die Häutung zwar, war aber vom Resultat nicht überrascht: Schwarz wie Teer war die Innenseite der Haut. Und sie stank auch wie Teer.
Er hatte soeben einige Hunderttausende von US-Dollar in den Sand gesetzt. Sichergeglaubte Prämien seiner Kollegen.
Wegen Privatproblemen!
Robert Rösch war knapp davor, mit der nackten
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