Letzte Fischer
sich hier doch wohlfühlen, oder?«
»Kinder achten meist nicht auf die Umgebung. Sie haben zu viel mit sich selbst zu tun«, sagte Mathilde, worauf Frau Schmitt unsicher lächelte: »Wenn Sie meinen!«
»Ja, aber ich bin ja keine Pädagogin.«
»Aber doch! Und ich danke Ihnen und Herrn Schneider! Ohne Ihre Hilfe könnte der Nachhilfeunterricht ja gar nicht stattfinden. Wir sind zwar ein angesehener Verein mit vielen Mitgliedern, aber trotzdem haben wir kaum Geldmittel.«
Die beiden Frauen stiegen die wenigen Stufen zum Essenssaal hoch und öffneten die Tür. Drinnen erzählte Herr Schneider den Nachhilfeschülern gerade von seinem neuen Sachbuch. Die Kinder hingen fasziniert an seinen Lippen.
Erstaunt blieben die Frauen stehen und hörten den Mann sagen: »Neue Kinder also. Es gibt bald auch neue Kinder. Die werden dann hergestellt, ganz einfach. Wenn die Eltern dann zu alt fürs Kinderkriegen sind, weil sie ja vorher Karriere machen mussten, dann bestellen sie ihre Kinder einfach beim Lageristen. Der sucht dann die eingefrorenen Säfte heraus, taut sie auf, mischt sie, schickt sie zur Brutaufzuchtsanlage und neun Monate später können die Eltern dann ihr neues Kind abholen, fabrikneu! Die Säfte stammen natürlich von den leiblichen Eltern persönlich. Sie haben sie früher selbst eingelagert, und so kommt es, dass die Geburt wegfällt. Unsere neuen Kinder werden also aus jungen Zellen sein und alte Eltern haben. Die Großeltern werden dann schon tot sein. Diese fabrikneuen Kinder werden es gar nicht mehr kennen, Großeltern zu haben. Kinder werden also aus Samenspenden und Teilen der Eierstöcke und der Gebärmutter, die zuvor entnommen wurden, gemacht. Eingefroren hält sich ja fast alles unbegrenzt. Das Gewebe bleibt in matt glänzenden Metallregalen, und um die Beine der Lageristen sammeln sich Kälteschwaden, während sie die neuen Babys herstellen. Wer von euch weiß, welche Temperatur Kälte mindestens haben muss, um als Nebel sichtbar zu werden? – Na? – Na?«
Diese Kinder, Hüter so vieler Misserfolge, reagierten reflexartig, beobachtete Mathilde. Sie sah, wie die Blicke vom Männergesicht losgerissen und versteckt wurden, während der Sachbuchautor immer weiter nachhakte.
»Herr Schneider, so interessant das Thema Ihres neuen Buches auch sein mag«, sagte Mathilde, »vielleicht ist es nichts für Kinder?«
Herr Schneider nahm die beiden Frauen wahr, nickte nachdenklich, entschuldigte sich und meinte, er habe einfach keine Erfahrungen mit Kindern. Er habe sie unterhalten wollen, weil er mit ihnen plötzlich alleine gewesen sei. Wo denn die werten Kolleginnen nur gewesen seien? Man könne ihn doch nicht so allein lassen, er sei doch völlig unerfahren im Umgang mit Kindern.
»Nun sind wir ja hier«, sagte Frau Schmitt und setzte sich ans Kopfende der u-förmigen Tischreihe. Sie bedeutete den Lehrern, sich neben sie zu setzen, und begrüßte die Kinder, die sie von den wöchentlichen Nachhilfestunden her kannte.
Nachdem Frau Schmitt und Herr Schneider sich vorgestellt hatten, stand auch Mathilde auf und gab Bruchstücke ihres Lebens preis, anschließend räusperten sich die Kinder nach und nach und nannten ihren Namen und ihre Klasse. Mathilde zählte siebenundzwanzig Kinder, die nach der Vorstellungsrunde entlassen wurden, um draußen etwas zu spielen, ehe der Unterricht losging.
Der Stundenplan überraschte Mathilde doch sehr. Sie hatte jeden Tag fünf Stunden mit verschiedenen Altersklassen. Es waren immer nur zwei Kinder pro Stunde eingeplant.
»Also ist immer bis etwa vierzehn Uhr Unterricht«, sagte Frau Schmitt: »Sie sind aber auch als Betreuer engagiert. Ich bitte Sie also, auch bei den Freizeitaktivitäten mitzumachen. Wir brauchen Sie einfach.«
»Was ist denn alles geplant?«, fragte der Sachbuchautor: »Das ist alles so spannend!«
»Eine Kanufahrt. Das ist der Höhepunkt. Lagerfeuer, ein Fasching mit Kostümen, ja, das sind ja schon drei Nachmittage und Abende. Für die anderen beiden Tage fällt uns sicher noch etwas ein.«
»Ich könnte über den Sternenhimmel erzählen. Sternbilder zeigen, wenn es nicht bewölkt ist«, bot sich Herr Schneider an: »Kinder mögen doch Sterne?«
»Das klingt nicht schlecht«, sagte Frau Schmitt, und Mathilde grübelte, was sie anbieten könnte. Ihr fiel lange nichts ein, ehe sich ihre Miene dann doch aufhellte: »Von Bäumen weiß ich alles! Und Bäume gibt es hier ja genug. Ich könnte zum Beispiel von Riesenmammutbäumen erzählen, die
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