Letzte Fischer
die Blumen zu gießen, und während sie die Post sortierte, fragte sie sich, wen Luise mit ›ihm‹ damals gemeint habe? Und mit ›ihr‹?
Wer war zu stolz, um alles zu verlieren? Und wer war ein Künstler, und was gewann dieser Künstler? Und was war das für ein Gedanke, etwas nicht zu vergessen, um die Erinnerung unschädlich zu machen? Mathilde schüttelte den Kopf, warf den Berg Werbepost weg und legte die wenigen Briefe auf den Küchentisch. Auch in dieser Wohnung stünden die Zimmer leer, auch hier gähne die Heimatlosigkeit ungeniert vor sich hin. Genau wie in ihrem Haus, stellte Mathilde fest und fragte sich zum ersten Mal, ob ihre Tochter glücklich war. Ohne Mann? Ohne Kinder? Hatte sie überhaupt Freunde? Oder nur Kollegen? Jetzt war Luise dreiundzwanzig Jahre, doch wie die Wohnung einer erwachsenen Frau sehe es hier nicht aus, meinte Mathilde. Außer dem Tagebuch fand sie kaum persönliche Sachen ihrer Tochter. Keine Mitbringsel von den vielen Reisen, aber jede Menge Plastiktüten von diversen Flughäfen. Mathilde nahm noch einmal das Tagebuch in die Hand, blätterte darin, blieb wieder auf der gleichen Seite hängen und las erneut die Sätze, die sie gerade gelesen hatte. Dann entdeckte sie unten die kleine Notiz und war auf der Stelle enttäuscht. Zitate! Es waren nur Zitate! Aus einem Buch von einer Annette Pehnt. Und aus dem Buch ›Der Goldsucher‹, das ein Nobelpreisträger geschrieben hatte. Mathilde entschied sich trotzdem für das Buch der Frau. ›Weibliche Solidarität‹, dachte sie, grinste und schrieb sich den Titel auf.
›Wollen doch einmal sehen, was meine liebe Tochter so alles gelesen hat‹, dachte sie und stellte das Tagebuch wieder zurück.
Sie nahm ihre Reisetasche und stieg wenig später in den Wagen, um zum nahen Lerncamp zu fahren, in dem sie einigen Kindern Nachhilfestunden geben sollte. Es war die letzte Woche der Großen Ferien, erste Herbstkühle hatte sich am Vorabend eingenistet. Mathilde fuhr die wenigen Kilometer vom Stadtrand Rostocks zum Camp, das sich östlich der Hansestadt befand. Ruhig steuerte sie das Auto und überlegte erneut, ob sie ihrem Ehemann ein Leben als Fischwirt zumuten solle. Oder dürfe. Oder könne.
Sollte sie mit Luise darüber reden? Noch einmal und ernsthaft? Aber die Meinung ihrer Tochter kannte sie ja schon. Die Meinung Staggs auch. Und die Meinung des Meeresbiologen, der letzte Woche den Vortrag gehalten hatte, sowieso. ›Nein‹, dachte sie, ›genug Meinungen eingeholt.‹
Fast wäre sie am kleinen, handgemalten Schild mit der Aufschrift ›zum Lerncamp‹ vorbeigefahren. Sie musste auf der leeren Landstraße, die von alten Kastanien gesäumt war, stark bremsen, um die Abfahrt noch zu kriegen. Wenig später zuckelte sie über Kopfsteinpflaster, das von zwei Reihen Betonplatten abgelöst wurde, an die sich ein Feldweg anschloss. Es war erst acht Uhr morgens, aber der Vorplatz des Gehöftes war schon voll mit Autos, in denen Eltern saßen, die ihren Nachwuchs abliefern wollten. Auch der andere Nachhilfelehrer und die Organisatorin waren schon da. Mathilde fuhr den Wagen an den Rand, stieg aus und schüttelte sich, plötzlich von Morgenfrische umhüllt.
Die Organisatorin sammelte die Kinderausweise und die schriftlichen Badeerlaubnisse ein, sichtlich nervös, und der Lehrer für Mathe, Chemie und Physik, der im Hauptberuf Sachbücher verfasste, unterhielt sich mit einigen Eltern. Mathilde ging zu den Kindern, Schüler im Alter zwischen zehn und achtzehn Jahren, und begrüßte sie.
Während die Kleinen putzmunter zurückgrüßten, nickten die Älteren hauptsächlich stumm.
»Eine Woche, dann seid ihr schlauer!«, sagte Mathilde.
Und ein Junge um die achtzehn sagte: »Hoffentlich!«
»Klar«, sagte Mathilde, und die Kinder lächelten höflich. Ein Junge meinte, bei ihm sei sowieso alles verloren.
»Alles?«, fragte sie.
»Na ja«, sagte der etwa Zwölfjährige ernst: »Nicht alles, bloß Hopfen und Malz.«
Sie nickte ihm ermunternd zu: »Wir haben hier eine ganze Woche wirklich genug Zeit. Hier kommt keiner zu kurz.«
Die letzten Eltern verabschiedeten sich von Mathilde, stiegen in ihre Autos und fuhren wieder nach Rostock. Die Kinder blieben zurück und musterten sich, ehe die Organisatorin alle zusammenrief und die wichtigsten Regeln erklärte.
›Regeln, zuerst Regeln‹, dachte Mathilde: ›Erstmal Regeln aufstellen, der Rest kommt dann schon.‹
Sie unterdrückte ein Lächeln und half den Kleinen wenig später, die großen
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