Letzte Fischer
Begeisterungsrufe. Immer wieder passte Timo zu Herrn Schneider, der sich an der Mittellinie aufhielt und dann versuchte, durch das dichte Bollwerk der kleineren Jungs zu gelangen, die ihre Überzahl voll ausspielten: Von allen Seiten stürmten sie auf Herrn Schneider zu, der ein ums andere Mal ins Stolpern geriet und den Ball verloren geben musste.
»Diese kleinen Rabauken!«, brüllte er dann in Richtung Mathilde und musste sich mit den Händen auf die Knie stützen, um wieder zu Atem zu kommen.
Die anderen drei Mitspieler seiner Mannschaft blieben in der Abwehr, und so gelang bis zur Halbzeit keiner Mannschaft ein Tor. Als Frau Schmitt zur Halbzeitpause pfiff, waren alle Jungs und Mädchen guter Laune. Die kleineren Jungs fielen auf die Rasenfläche und sahen sich mit großen Augen an, stolz, den Großen etwas entgegengehalten zu haben. Die großen Jungs verdrückten sich zur Raucherinsel, und Herr Schneider ließ sich pustend neben Mathilde auf die Holzbank fallen.
»Harter Gegner«, sagte er: »Keine Chance!«
Mathilde nickte und blickte zu den kleineren Jungs, die auf der Spielfläche verstreut herumlagen und das Erfolgserlebnis genossen. Wie wenige von ihnen solche Erlebnisse wohl kannten? Mathilde, die Vertrauen zu Herrn Schneider gefasst hatte, sagte: »Viel Druck in der Partie! Positiver Druck. Immer vollführt der Größere den Druck, den der Kleinere dann aushalten muss. Einfach, weil der Größere mehr Platz braucht. So übt zum Beispiel die Sonne da oben gerade massiven Druck auf die Erde aus, weil Hitze beständig mehr Platz braucht als Kälte. Die Luft wird erwärmt, die kältere Luft immer weiter verdrängt, und was entsteht, das ist der viel gerühmte Wind. Der Wind ist ein Ergebnis der Verdrängung, dabei tut er so, als würde er verdrängen! Dieser Charmeur.«
»Ach, Wind! Der würde jetzt richtig gut tun! Ja, jetzt einen starken Wind in der Pause«, keuchte Herr Schneider und trank gierig aus einer Wasserflasche.
»Der Wind kann einfach alles, Herr Schneider. Er bringt die Erde zum Drehen, dabei existiert er nur um seiner selbst willen. Woher nimmt er nur diese bezaubernde Naivität? – Doch wohl, weil er keine Eltern hat. Er hat keinen Vater. Er war einfach da. Seit Anbeginn. Er ist eine Geburt der Sonne, aber einen Vater hat er nicht. – Und wer will die Sonne schon als Mutter? Kein Wunder, dass er immer auf den Beinen ist.«
»Dann muss er sehr unglücklich sein«, sagte Herr Schneider.
Mathilde drehte sich erstaunt zu ihm um: »Warum?«
»Weil er die Zuversicht der Kinder nicht kennt. Das Urvertrauen nicht nachvollziehen kann. Vaterlose Kinder suchen den Sinn ihrer Existenz nicht woanders, immer nur bei sich selbst. Wer das Urvertrauen als Kind nicht kennengelernt hat, im Schoße einer vollständigen Familie zu leben, der wird die Verantwortung für die eigene Existenz niemals in unsichtbare Hände legen. Auch nicht in fremde Hände. In gar keine Hände, Frau Rösch! Von wem reden Sie? Von Ihrem Ehemann?«
Noch erstaunter musterte Mathilde den Sachbuchautor: »Ja. Ich dachte gerade an Robert. Der ist ohne Vater aufgewachsen, dabei war ihm die eigene Mutter so weit weg, wie die Sonne vom Wind.«
»Und Sie meinen nun, Robert flieht noch immer vor der Verantwortung. Das klingt vielleicht bitter, aber als vaterloser Sohn nimmt er für seine eigene Existenz viel mehr Verantwortung auf sich, als er bräuchte. Allerdings lässt das keinen Platz, für andere Menschen Verantwortung zu übernehmen. Zum Beispiel für die kleinen Racker hier. Glauben Sie mir, ich spreche aus Erfahrung. Es ist keine böse Absicht Ihres Mannes, wenn er mehr an sich als an andere denkt. Es ist nur der erlernte Trott. ›Überleben‹ genannt.«
»Ich hatte immer die Hoffnung, dass sich das mal ändern könnte . . .«
»Die Verantwortung macht aus dem Reden ein Sprechen und Sagen. Wer spricht, dem hört man zu. Wer redet, den verlacht man nur.«
»Soll heißen?«
»Soll heißen, der Ausweg aus der Misere gelingt, wenn Ihr wortkarger Ehemann das Kommunizieren lernt. Das ist die Rettung. Er soll nicht das Lamentieren lernen, sondern das Sprechen und Sagen. So wie ich es gelernt habe, oder hören Sie mir etwa nicht interessiert zu, Frau Rösch?«, fragte Herr Schneider und lächelte, während er sich den Schweiß abtrocknete: »Ich glaube, ich habe eine Zerrung.«
»Doch, Sie lassen sich auf ihr Gegenüber ein und können etwas präsentieren, über das Sie sich erkundigt haben. Über das Sie nachgedacht haben.
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