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Letzte Fischer

Titel: Letzte Fischer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Volker Harry Altwasser
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sich über. Die Kapuze drückte ihr der eiskalte Wind von Spitzbergen fast von selbst auf.
    Sie streifte die Handschuhe über, stieg die Treppe zur Brücke hoch, um von da aus über die wenigen Stufen aufs Brückendach zu gelangen. Die letzte Wache lag vor ihr. Mal wieder. Luise lächelte, als sie oben ankam, wo Thomas in sich versunken im Schneidersitz auf einer Pappe saß und vor sich hinträumte.
    »Die letzten zwölf Stunden«, sagte sie.
    Thomas schreckte auf und nickte: »Der Kapitän meint, wir sind schon in neun Stunden an der Pier.«
    »Neun Stunden, zwölf Stunden, ist doch egal.«
    »Für die Fischer nicht! Da zählt jetzt jede Minute! Krumme Erna soll schon fleißig am Zapfen sein.«
    Luise nickte und nahm den Seestecher. Unendlich groß war der blaue Teppich mit den weißen Kronen. Gischt verlor sich und kam im selben Moment wieder hoch. Luises Blick blieb an einer einzigen Welle hängen, die immer wieder neue Gischt produzierte. Immer größer wurden diese Schaumkronen, als sich ihr Blick plötzlich an einer Stange der Reling stieß. Die See habe ihr den Blick zurückgebracht, sie habe aus dem Schweifen ein Erinnern gemacht, ein Erinnern an das eigene Schiff, an die eigenen Beine, an die eigenen Gedanken: an die Gegenwart.
    Luise lächelte und dachte: ›Die See lässt uns niemals im Stich. Sie lacht sich eines über die Romantiker an den Ufern, sie wirft alles Sehnen sofort wieder zurück ins eigene Auge. Fernweh ist Heimkehr.‹
    »Das Meer ist der größte Realist, den wir kennen«, sagte sie zu Thomas, der nur wieder nickte. Er kannte diese Anwandlungen schon. Luise werde am Ende eines Einsatzes immer wehmütig, die Zwillinge seien dann abgestumpft, und er selbst neige zur französischen Philosophie des siebzehnten Jahrhunderts, weil sie so schön übersichtlich sei. Thomas lächelte, drückte das Kreuz durch und sagte in den Wind: »Realität ist nur der Teil des eigenen Lebens, den wir in der Gemeinschaft mit anderen Menschen verbringen, aber: Wie viele einsame Stunden kennen wir doch!«
    »Zu viele«, sagte Luise und fügte an: »Oder zu wenige.«
    »Darüber muss ich nachdenken! Über das Oder! Warum nicht ein Und?«
    »Weil der Witz so geht: ›Was ist tiefer: Teller, Oder, Tasse? – Die Oder!‹«
    »Ja, ich weiß«, sagte Thomas: »Ich weiß.«
    Er drehte sich halb auf die Seite, zog die Beine hervor und stand auf. Mit ein paar Armbewegungen wärmte er sich auf, ehe er eine Serie Kniebeugen machte und ein paar Liegestütze anfügte. Er zweifelte langsam am Sinn seines Jobs. Wie viele Stunden verbrachte er doch damit, herumzulungern und auf Feinde zu warten? Würde er nicht hundertzwanzigtausend US-Dollar im Jahr verdienen, ja, was dann? Würde er dann in der goldenen Stadt seiner Heimat herumlungern? Ohne Honorare? Sei der Sinn des Lebens das Herumlungern? Nachdenklich ließ er die See seinen Oberkörper schaukeln.
    Eine Antwort wollte er sich nicht vorschnell geben. Er setzte sich wieder hin und nahm den Seestecher in die Hand.
    Aus den Augenwinkeln sah er das Außenschott aufgehen. Der Harpunier kam mit brennender Zigarette heraus, ging zum Bug und hantierte an der zusammengelegten Harpunenkanone herum. Thomas sah, wie der Mann sich zu ihnen umdrehte und ihnen den gestreckten Mittelfinger zeigte.
    »Was ist denn mit dem los?«, fragte er.
    Luise winkte ab: »Ich hatte eine Auseinandersetzung mit ihm. Eine kleine.«
    »Mit ihm? Was für eine? Prügelei?«
    »Ja.«
    »Weswegen? Jetzt sag nicht, wegen des Schiffsjungen. Das wäre ja verrückt!«
    »Genau deswegen.«
    »Mensch, Luise! Hat dir nicht schon Leo gereicht? Du musst dich disziplinieren.«
    »Das habe ich mir auch gesagt.«
    »Der Feind steht außerhalb des Schiffes! Immer.«
    »Ja ja, du hast ja Recht, du hast immer Recht! Du mit deiner verkümmerten Libido, aber es gibt auch andere Menschen. Menschen, die das nicht können.«
    »Du meinst, Frauen!«
    »Ich meine Frauen.«
    »Dann lernt es! Je schneller, desto besser für uns alle«, sagte Thomas und gab dem Harpunier den Fingerzeig zurück: »Ruhe ist die erste Bürgerpflicht! Denke nicht, was die Firma für dich tun kann, denke, was du für die Firma tun kannst!«
    »Wie hast du das gelernt? Das Ignorieren des Selbst?«
    »Männer wachsen schon so auf. Das eine ist Arbeit, das andere ist Freizeit. Das lernt man schon als Junge, aber keine Sorge, es ist gar nicht so kompliziert. Es hat einen großen Vorteil. Man kann besser arbeiten, wenn man nicht ständig von seinem persönlichen

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