Letzte Fischer
Mathilde aber ignoriert hatte. Sie hatte am runden Küchentisch gesessen und wenig später die Stimme der Ladenbesitzerin durch das offene Fenster gehört, ehe sie es geschlossen hatte. Eine Blondine im Schlepptau, war Tina um das Haus herumgeschlichen, und Mathilde hatte sich gewundert: ›Wie leise doch Welten einstürzen. Nicht einmal die Grashalme richten sich auf!‹
Männerstimmen, irgendwann, viele laute Stimmen, mit denen Einlass gefordert wurde. Ausweise wurden an die Fensterscheiben gehalten, da war Mathilde noch einmal aufgestanden und hatte die Rollos heruntergelassen. Da waren die Grashalme im schweren Novembernebel schon gar nicht mehr zu sehen gewesen, und sie hatte gedacht: ›Komisch. Sehr komisch.‹
Festnetzgebimmel, Handygeklingel, dann war plötzlich Ruhe gewesen, und Mathilde war zum Baum Stagg gegangen, hatte ihm gutmütig aufs Glas gehauen, wie einem alten Hund auf den Rücken, und allmählich waren die Tränen gekommen, die ihr den Schock fortgespült hatten.
Aber um welchen Preis!
Mathilde stand barfüßig im feuchten Nebel. Hier auf der Festwiese hatten sie sich über Lagerfeuer unterhalten. Eine ganze Nacht lang, und Robert hatte die beste Geschichte abgeliefert. Sie hielt sich an der Reling fest, die sich am Ende der Wiese auf der Steilküste befand, und sah in der Ferne das hell erleuchtete Deck des Tankers, der dort immer lag. Die nach oben gerichteten Kräne mit den Schläuchen waren in der Dämmerung gerade noch zu erkennen. Menschen sah Mathilde aber nicht.
Hinter ihr die Lichter des Dorfes, die nach und nach eingeschaltet wurden. Wie viele Ferienwohnungen doch belegt waren! Seesucht im November. Die letzten Hunde wurden in die Häuser befohlen, kurze und müde Rufe. Mathilde behielt das isolierte Drahtseil in der Hand, ließ es durch den Griff laufen und ging langsam zum Niedergang, der sie an der großen Standuhr vorbei zum Wasser hinunterführte. Sie hielt auf allen Treppenabsätzen und ließ den leuchtenden Tanker nicht aus den Augen. Er wurde zur einzigen Lichtquelle.
Als Mathilde auf der Betonbrüstung stand, die als kleine Promenade die Steilküste vor dem Wüten des Januarmeeres schützte, sah sie links die andere Lichtquelle: Heiligendamm.
›Verlorene Orte‹, dachte sie: ›Verloren in der Vergangenheit der eine und verloren in der Zukunft der andere. Was bangt ihr euch? Ich habe auch keine Leiche zum Betrauern.‹
Sie ging die letzten vier Stufen, die aus Beton waren, hinunter und blieb im Sand stecken.
Als würde sie sinken. Als würde sie der Sand immer weiter nach unten ziehen, als müsste sie ständig schaufeln, damit der Sand nicht über ihr zusammenbräche. Als würde da oben Robert durch das Wirrwarr der Sterne schwimmen. Ach, würde er doch nur aus all dem Nebel einen Strick drehen! Und wenn er ihn doch nur zu ihr herunterwerfen würde! Sah er denn all den Sand nicht, der seine Frau immer weiter nach unten zog? Mathilde fiel auf die Knie. Sie kroch zum Ende des Strandes und krallte sich in der Feuchte fest. Das Meer säuselte leise, doch trösten wollte es nicht.
Mathilde begriff, es könne nicht zuhören, es wolle nicht zuhören, es brauche nicht zuzuhören. Es sei eben das Meer. Sie fiel auf den Schenkel und spürte die Kälte des Sandes an Händen und Füßen. Ihr Gesicht aber glühte. Es brannte. Es verdampfte die Tränen und ließ nur das Salz zurück, das sich in die Falten grub, die ihr der Kummer einmeißelte. Welch genialer Künstler doch! Genialität durch Brutalität; erschöpft fiel Mathilde auf den Rücken. Der Nebel umhüllte sie. Er dämpfte die Rufe, die plötzlich vom Dorf herüberdrangen. Nur dumpf war ihr Name zu hören. Sie war versteckt, sie war gut versteckt. Sie wurde zum Meisterwerk des Kummers. Mathilde hielt die Stiche aus, das mechanische Schaben, das Nachbessern und auch das Pusten. Der Kummer war ein gütiger Künstler: Er polierte die Werke wenigstens nicht noch.
Er gab ihnen keinen Glanz. Er verrenkte nichts, gehorchte man ihm. Er liebte es, den Augenblick zur Ewigkeit zu machen. Den Augenblick solle man ewig sehen, Mathilde begriff zum ersten Mal das bestialische Ringen Runges. Der Maler müsse sich mit dem Kummer anlegen, der Kampf entscheide, werde der Maler ein Schaffender oder ein Geschaffener. Der Künstler müsse auch mit der Liebe ringen, mit der Angst, mit der Wut, mit all dem Natürlichen, das die Seele ausmache. Er müsse, wenn er gleichberechtigt schaffen wolle, als Sieger dastehen. Ein Sieger ohne Haut, denn
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