Letzte Fischer
Rücktritt des Ministers. Für eine Stellungnahme war er nicht zu erreichen.«
Mathildes Handy klingelte. Sie reagierte nicht. Tina nahm es und schaltete es kurzerhand aus. Jemand klopfte an die Ladentür, ging aber wieder. Tina ließ die Zeitung fallen, hockte sich hin und strich Mathilde die Haare aus der Stirn. Mathildes Blick war leer. Sie starrte vor sich hin, reagierte nicht auf Tina, die sich neben sie setzte und ihr einen Arm um die Schulter legte.
Tina umfasste den rechten Oberarm und flüsterte: »Mathilde! Bleib nicht hier sitzen, Mathilde!«
Mathilde schüttelte den Kopf. Sie wandte den Blick zu Tina und fragte: »Was?«
»Du darfst jetzt nicht einfach sitzen bleiben!«
»Lies mir bitte den Artikel vor. Ich muss alles wissen.«
»Aber das habe ich doch gerade.«
»Wirklich? Ich hab nichts gehört.«
»Ich bringe dich besser nach Hause! Dann hole ich den Arzt. Doktor Ohlbaum wird dir was zur Beruhigung geben!«
»Ich bin ruhig«, sagte Mathilde, und Tina dachte: ›Ja, noch.‹
Sie half der Frau auf, legte sich ihren Arm um die Schulter und sagte: »Zu Hause koche ich dir einen schönen starken Pfefferminztee!«
In diesem Augenblick knickten Mathilde wieder die Knie ein. Sie fiel halb auf den Boden zurück, während Tina an ihr zog. Nach einigen Sekunden ließ sie es und setzte sich erneut neben Mathilde.
»Wir haben keinen Pfefferminztee! Robert hat den ganzen Vorrat mitgenommen«, flüsterte Mathilde. Doch dann schrie sie auf. Sie kreischte, raufte sich plötzlich die Haare. Wild schlug sie auf die Bodenkacheln und demolierte die Tresenverkleidung. Mathilde kroch zum Papiermüll. Stumm zerfetzte sie alle Zeitschriften und Zeitungen, machte sich auch über die Groschenromane her, und Tina dachte: ›Endlich!‹
Immer mehr Fetzen wirbelten durch die Luft, bis Mathilde erschöpft inne hielt und stöhnte: »Das kann doch nicht wahr sein!«
Sie lachte Tina an: »Die spinnen! Die lügen! Alle! Sie lügen alle! Diese Lügner! Lügner, das sind alles Lügner! – Weißt du, wie viele Schiffe es da unten gibt? Tausende! Die haben sich vertan! Diese Lügner haben sich geirrt! Die sollten sich mal lieber nicht so irren! – Da irren die sich einfach! – Die lügen doch immer!«
Mathilde kroch zum Handy, schaltete es wieder ein, öffnete das Register und drückte auf die Eins. Sie lauschte und grinste Tina wenig später überlegen an: »Na, bitte! Es klingelt! Gleich geht Robert ran! Warte, warte.«
Tina schüttelte zwar den Kopf, ließ Mathilde aber im Glauben, ihr Mann gehe gleich ans Telefon. Sie stellte sich vor, wie das Handy in Roberts aufgeschwemmter Hand liege, tausend Meter unter der Wasseroberfläche. Wie es blinke und wie ein Schwarm Fische es neugierig beäuge, ehe ihn ein Hai auseinanderstiebe.
»Geh doch schon ran! – Er hat wahrscheinlich Schicht! – Er muss bestimmt wieder am Fließband aushelfen, weil es gerade keine Seefledermäuse gibt. – Mein Mann ist der beste Spezialist auf seinem Gebiet. Die ganze Hochseefischereiflotte kennt ihn! – Aber diese Kurznasenseefledermäuse sind leider so selten«, sagte Mathilde, nickte und stellte das Handy wieder aus, nachdem sich irgendwo in der Welt der virtuelle Anrufbeantworter eingeschaltet hatte: »Ich meine, wenn es wahr wäre, dann hätte mich doch irgendein Beamter aufgesucht. Ich meine, dafür muss es doch auch Beamte geben. Es gibt doch Beamte für alles Mögliche. Irgendwie würde man doch von Rechts wegen informiert werden, das ist doch klar!«
Mathilde erhob sich: »Entschuldige bitte! Immer fällt man auf diese Zeitungsenten herein! – Also Tina, schau doch mal nach, ob ich beim Lotto gewonnen habe. Die Samstagsziehung.«
Aber die Ladenbesitzerin schüttelte den Kopf. Sie war auch aufgestanden und ging um den Tresen, als sie mechanisch sagte: »Dann gib doch mal den Schein her, damit ich ihn kontrollieren kann.«
Sie nahm ihn, sah Mathildes Hand zittern, und sie verfluchte sich dafür, diese Komödie mitzuspielen, aber was könnte sie sonst tun? Sie wusste es nicht.
Der Schein ratterte durch die Maschine und ungläubig sah Tina auf das Display. Sie versuchte zu lächeln, was ihr aber nur schief gelang, wie sie spürte.
»Was?«, fragte Mathilde.
»Du hast einen Gewinn.«
»Na, bitte!«
»Einen satten!«
»Wie hoch?«
»Neuntausendvierhundertachtundsechzig Euro und vierzig Cent.«
»Vierzig Cent? Was kann ich mir schon groß für vierzig Cent kaufen? Also, diese Lottofritzen, die betrügen einen aber auch
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