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Letzte Fischer

Titel: Letzte Fischer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Volker Harry Altwasser
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die Seele wohne in der Haut, und eine Seele könne sich ein Meister nicht leisten. Mathilde sah den Nebel aufreißen, spürte, wie sich ein Wind erhob, und sagte den Kampf ab. Sie wolle keine Schwester Runges werden, sie bleibe eine Geschaffene, der Kummer dürfe ihr aber gern zur Hand gehen, wenn sie den Schattenriss des großen Stagg in Angriff nehme. In jenen Scherenschnitt könne der Kummer die Trauer um Robert versenken. Sie werde auf ihn hören, sie werde sich die Hand von ihm führen lassen. Sie werde seine Ratschläge annehmen, versprach sie, indes der Wind immer weiter auffrischte, ihr das Salz schließlich aus den Falten blies, und der Kummer sich vorerst zufrieden gab. Mathilde stützte sich auf einen Ellenbogen, hörte die Rufe zwar, aber zum Antworten fehlte ihr die Kraft. Sie grub die Finger tief in den feuchten Sand und ballte die Hände zu Fäusten. So viele Sterne waren da oben! Und doch einer weniger als gestern noch. Als was Robert da oben wohl nun erschien? Als Schattenstern oder als Sternschatten? Mathilde drückte sich den feuchten Sand ins Gesicht und rieb sich mit immer festeren Bewegungen die Ohren, bis sie sich schließlich auf die Ohren schlug; wütend und machtlos. Sie konnte die Rufe nicht ignorieren. Dabei wollte sie doch gern noch ein wenig allein sein! Warum nur wollten diese Menschen, die ihr doch nichts bedeuteten, ihr die Arme um die Schultern legen und sie zurück zum Wohnplatz führen? Gar zum Arbeitsplatz? Warum nur konnten die Menschen die Menschen nicht allein lassen? Sie hörte Stimmen von der Treppe her. Sie kamen. Sie kamen immer näher. Sie wollten sie holen. Und Wut stieg in Mathilde auf. Sie schloss die Augen, damit die Pupillen nicht reflektierten. Zwecklos, warum nur gab es keinen Ort zum Trauern? Warum nur wurde man überall aufgespürt?
    »Mathilde! Komm, steh auf!«
    »Geht!«
    »Mathilde, du wirst dir eine Erkältung holen.«
    »Nein.«
    »Wir bringen dich nach Hause. Wir legen dich ins Bett. Wir geben dir Tee zu trinken. Oder Schnaps. Wir halten zusammen. Wir sind ein Dorf.«
    »Geht.«
    »Öffne doch wenigstens die Augen, Mathilde.«
    »Nein.«
    »Du musst schlafen. Das ist die beste Medizin!«
    »Geht.«
    »Du musst dich ablenken. Besser, du fängst sofort an. Du musst wieder in die Gänge kommen. Der Alltag darf dich nicht verlieren.«
    »Nein.«
    »Sollen wir sie lassen? – Ich glaube, es wäre besser.«
    »Das können wir nicht. – Wir haben jetzt Verantwortung.«
    »Geht.«
    »Ich mag sie nicht zwingen.«
    »Ich ja auch nicht.«
    »Geht.«
    »Lass uns gehen, wir kommen später wieder.«
    »Meinst du?«
    »Geht«, sagte Mathilde und hörte die Schritte im Sand, die sich entfernten. Sie flüsterte: »Danke.«
    Sie stand auf und ging, die Lichter des heiligen Damms hinter sich lassend, nach Osten.
    Sie kam zum Findling, den sie in der Dunkelheit kaum ausmachen konnte. Seit Jahrtausenden pralle die See an ihm ab. Die Steilküste weiche Millimeter um Millimeter, der Findling aber bleibe, wo er sei. Mathilde streichelte ihn, ihn, der doch ohne Haut sei. Sie spürte der vom Wind gerundeten Form nach, umkreiste den mannshohen Stein und fragte sich, wo dessen Seele sich wohl befinde.
    Kalter Stein, der ihre Wange kühlte. Sie hielt ihm auch die andere Gesichtshälfte hin und umarmte ihn, so gut sie konnte. Gut ging es nicht. Wie oft sie an ihm doch schon vorbeigelaufen war? Hundert Mal? Tausend Mal? Nein, so oft dann wohl doch nicht. Tausend Mal, das wäre sehr häufig gewesen. Wann kam sie hier schon mal lang? Nicht oft und nie mit Luise. Und nie mit Robert. Mit ihnen war sie immer nur nach Westen gegangen, dem Sonnenuntergang entgegen. Als wäre das ein Gesetz für Spaziergänge! ›Gehen Sie abends immer nach Westen, wenn Sie sich an einem Meer befinden‹, dachte Mathilde und entschloss sich, auf den Stein zu klettern.
    Er war wegen des feuchten Nebels glitschig. Die Wellen reichten heute nicht bis zu ihm. Mathilde brauchte viele Versuche, sie probierte es von verschiedenen Seiten aus, und schließlich entwickelte sie einen Ehrgeiz, auf diesen Stein zu kommen, immer verbissener versuchte sie es: ›Schmerz, lass nach! – Verdammt!‹ – Aber sie schaffte es nicht. Nicht einmal das schaffte sie allein. Wie sollte sie denn dann alles andere allein schaffen?
    Sie drehte sich um, sah Richtung Osten in die Dunkelheit und lehnte sich mit dem Rücken an den mächtigen Findling. Sie legte den Hinterkopf an den Stein und hörte auf ihren Atem.
    »Das also ist der Atem

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