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Letzte Fischer

Titel: Letzte Fischer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Volker Harry Altwasser
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Boden hinter dem Zaun, und erkannte dann erst den dicklichen Jungen.
    »Ich bin’s«, sagte der etwa Sechsjährige.
    »Du hast mich noch nie angesprochen«, sagte Mathilde: »Ich dachte, du kannst gar nicht sprechen.«
    »Ich kann alles, was ich will.«
    »Ach so? Das ist ja schön. – Wirst du gar nicht abgeholt?«
    »Nein.«
    »Warum das nicht?«
    »Ich soll alleine nach Hause finden. Gestern und vorgestern hab ich es geschafft, aber heute habe ich keine Lust.«
    »Keine Lust?«
    »Nein.«
    »Und die Erzieherin, Frau Rennsing?«
    »Die ist auch schon nach Hause. Die hab ich verarscht. Die glaubt, ich bin schon losgegangen. Bin ich aber nicht.«
    »Wie man sieht«, sagte Mathilde und überlegte einen Moment, ehe sie sagte, der Junge solle herüberkommen. Er könne hinten durchs Gartentor gehen.
    Sie war überrascht, als der Junge seine Brottasche über den Zaun warf und mit zwei, drei Bewegungen flink über den Zaun kletterte.
    Langsam kam er näher und setzte sich auf den vordersten Rand des Stuhles, der ihr gegenüberstand.
    Er sah sie mit großen Augen an, schwarze Pupillen, die im Dunkeln schimmerten.
    »Warum spielst du nie mit den anderen Kindern?«, fragte sie.
    »Keine Lust, die wollen immer nur bestimmen.«
    »Und du?«
    »Ich will auch bestimmen. Alle wollen doch bestimmen. Deswegen ist doch immer Krieg.«
    »Gott, tu doch nicht so altklug!«
    »Neuklug gibt’s doch nicht.«
    »Stimmt auch wieder. – Was spielst du denn am liebsten?«
    »Computer. Ich hab eins vom Dritten Weltkrieg. Da bin ich der Anführer, und alle stürzen sich immer in den sicheren Tod, wenn ich das befehle.«
    »Und das gefällt dir?«
    »Ja, ist total echt, wenn die Arme und Köpfe abgerissen werden und wenn die Gedärme durch die Gegend fliegen, das gefällt mir«, sagte der Junge mit ernstem Gesicht, ohne sie aus den Augen zu lassen.
    »Was stellst du dir vor, wenn du mich immer anschaust?«
    »Dass meine Soldaten dich gefangen nehmen und dich verhören. Du willst aber nichts verraten, also gibt’s Schläge!«
    Mathilde atmete hörbar durch: »Das also ist es. – Und du?«
    »Ich?«
    »Wer schlägt dich, wenn du dir vorstellst, dass andere geschlagen werden?«
    »Keiner.«
    »Deine Mutter?«
    Zwar verneinte der Junge, aber für Mathilde klang es alles andere als glaubwürdig.
    »Gibt es niemanden, der dich beschützt? Dein Vater?«
    »Der ist Soldat, der muss alle bewachen, nicht nur mich.«
    »Ich verstehe. Und du hast keine Geschwister?«
    »Nein, kommt vielleicht noch.«
    »Wäre das gut?«
    »Klar wäre das gut. Dann kann ich wirklich mal Verhöre durchführen.«
    Aus einem Impuls heraus erhob Mathilde sich und wusste einen Moment lang nicht, was sie mit dem Jungen tun sollte. Sie sah ihn an, er aber saß weiter völlig entspannt auf dem vorderen Rand des Stuhls und schaukelte mit den Beinen. Die Hände hatte er unter den Oberschenkeln.
    »Willst du was trinken? Vermisst deine Mutter dich nicht langsam?«
    »Die kommt erst, wenn es richtig dunkel ist. Die ist Chefin.«
    »Ach so . . . und? Trinken?«
    Der Junge nickte, und Mathilde ging zur Küchentür, die sich neben dem Eingang zum Wintergarten befand, und öffnete sie von außen. Wenig später hatte sie das Licht eingeschaltet und rief dem Junge zu, er könne hereinkom men, ehe sie fragte, wie er heiße.
    »Theodor Maximilian.«
    »Ach, scheiße«, entfuhr es Mathilde, und zum ersten Mal sah sie ihn lächeln.
    Mit zwei bauchigen Tassen kalter Milch, in die sie ein wenig Kakao gerührt hatte, führte sie den Jungen ins Wohnzimmer, wo er sich ihr wieder gegenübersetzte und den Blick nicht vom riesigen Plakat lösen konnte, das den alten Stagg zeigte. Sie beobachtete den Jungen, der erst spät den winzigen roten Fleck im Wipfel bemerkte, und sah ihm zu, wie er aufstand, näher trat und staunte: »Das ist ja ein Mann. So klein!«
    Mathilde nickte, trank einen Schluck und erzählte ihm die Geschichte von Stagg , dem ältesten Baum der Welt.
    »Und nun«, endete sie, »werde ich die Umrisse von ihm mit Licht abpausen, jeden Zweig werde ich nachzeichnen, und aus diesem Muster werde ich dann einen Scherenschnitt anfertigen.«
    »Einen was?«
    »Einen Scherenschnitt. Das ist eine Kunstform, bei der du alles wegschneiden kannst, was dich stört. Dann bleibt nur das übrig, was du auch wirklich dahaben willst.«
    »Das klingt gut! Wie beim Computerspiel. Da ballere ich auch weg, was stört.«
    »Aber das Ausschneiden ist viel besser. Weil du da selbst etwas tust. Du kannst

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