Letzte Fischer
überlebenswichtig für die Kameraden und Kollegen an Bord, nicht so sehr für einen selbst. Tommy meinte, es durchaus verstanden zu haben; jetzt. In diesem Augenblick, da er den alten Fischer übers Oberdeck schleichen sah, um den Kameraden ja nicht den Schlaf zu rauben, damit sie während der Arbeit nicht so schnell müde wurden und keine Fehler machten, die ihnen allen das Leben kosten könnten. So fing sie an, die Rücksichtnahme aus Eigennutz. Tommy biss sich auf die Unterlippe und sah zum alten Schmelzer .
Der setzte sich nicht einfach ans Heck, der legte die Beine nicht einfach hoch und behielt die Pier mit einem Auge im Blick. Der alte Fischer bewachte das Leben seiner Kollegen, auch wenn keine Gefahr im Verzug war. Tommy überkam eine Gänsehaut. Zeigte das nicht seine Größe? Wenn er Dinge tat, nützliche Dinge, ohne einen Zuschauer zu haben? Oder wusste der Mann, dass er hier hockte und ihn beobachtete? Wie sollte er überhaupt wieder aus dieser Lage herauskommen? Würde der Alte ihn nicht missbilligend anstarren und wütend fragen, ob er ihn etwa überwacht habe? Das wäre der größte Vertrauensbruch, wurde es Tommy auf einmal klar. Er durfte keine Bewegung tun. Er musste unbeweglich aufs Ende der Wache warten und sich dann wegschleichen. Dummerweise kribbelte es ihm in den Zehen. Die Füße begannen einzuschlafen. Auch gut! Solle nur alles einschlafen an ihm, sein Hirn würde er schon wach halten, damit es aufpasse, dass der Körper keine Bewegungen mache, keine unbeherrschten.
›Hoffentlich geht dem Funker jetzt nur nicht durch den Kopf, einen Porno herunterladen zu wollen, und hoffentlich geht meinem Vater dann nicht auch noch durch den Kopf, mich anrufen zu wollen‹, dachte Tommy. An sein Handy kam er nicht heran. Es lag tief in der Tasche, auf der er saß.
Er döste vor sich hin, als er von fernen Geräuschen aufgeschreckt wurde. Noch konnte er nichts sehen, aber deutlich hörte er ein Auto näher kommen. Es fuhr langsam und hielt schließlich vor der Gangway. Durch die Reling konnte Tommy die Umrisse des Taxis sehen. Vier Leute stiegen aus. Drei hinten, einer vorne. Sie sangen einen Refrain.
Der alte Schmelzer war an die Gangway gekommen und rief den Fremden etwas zu, die das Taxi bezahlten und an Bord kamen. Für einen Moment waren die vier verschwunden, dann aber sah Tommy die Gestalten wieder. Sie blieben vor dem Alten stehen, der schließlich nickte und ihnen vorausging. Das war seine Gelegenheit! Die Männer gingen an ihm vorbei, ohne ihn zu bemerken, und jetzt sah er, dass die letzte Gestalt eine weibliche war.
Eine junge Frau. Hübsch. Fast noch ein Mädchen, jedenfalls aber mit mädchenhaftem Gesicht, mehr konnte Tommy so schnell nicht erkennen.
Auch sie trug ihren Seesack auf dem Rücken. Ob das die Leute vom Sicherungskommando waren, auf die sie seit zwei Wochen warteten? Vermutlich ja. Jeden anderen Menschen hätte der Alte doch nicht an Bord gelassen.
Aber eine Frau als Beschützer, was würden da die alten Seefahrer nur sagen? Tommy konnte sich deren Reaktionen jetzt schon gut vorstellen. Er grinste milde und erhob sich, als die fünf im Schiff verschwanden.
Tommy ging ebenfalls ins Innere und öffnete wenig später das Schott seines neuen Zuhauses.
»Wo warst du so lange?«, fragte der Baske .
»Gewöhn dich erst gar nicht daran«, sagte Tommy müde.
»Woran?«
»So zu tun, als wärst du mein Vater.«
»Ich? Spinnst du?«
»Dann frag bitte auch nicht alle naselang, wo ich gerade war.«
»Verstehe. Das lässt sich einrichten, Kollege Rahr.«
»Das freut mich. – Übrigens, sie sind da.«
»Dann sollten wir noch eine Mütze voll Schlaf nehmen, oder hast du Wache?«
»Nein.«
»Dann ab auf Koje und Licht aus. Wir müssen vorschlafen.«
»Werden die uns beim Ablegmanöver denn nicht brauchen?«
»Das machen die, die gerade Wache haben.«
Tommy nickte, zog sich bis auf die Unterhose aus und kletterte ins Bett. Während der Baske kurz darauf sein Kojenlicht ausschaltete, holte Tommy das blaue Notizbuch unter dem Kopfkissen hervor und machte sich Stichpunkte unter der neuen Überschrift ›Blubberstadt‹.
Er merkte beim Schreiben, wie das Schiff sich in Bewegung setzte. Ein Kreisen und Stoßen, die Motoren ratterten, leise war ein kurzes Hupen zu hören, doch bald setzte das Wiegen der See ein. Der Walfänger marschierte durch die Bucht. Tommy grinste.
Er schob das Buch unters Kopfkissen zurück, löschte das Licht und gab sich dem fordernden Rhythmus des Meeres
Weitere Kostenlose Bücher