Letzte Fischer
nicht gefangen zu werden?
»Das war’s, Jungs«, erlöste die Stimme des Kommandanten die Männer: »Aufklaren des Oberdecks und fertig zum Auswerfen der Netze. Verarbeiter, vorbereiten auf die Schicht!«
Die vielen Lautsprecher knackten, und die Männer banden sich die Hämmer von den Handgelenken. Sie hätten sich am liebsten die Wattejacken, die Eisbärenmützen und Robbenhandschuhe vom Leib gerissen, so heißrot und schweißnass waren ihre Häute, aber sie beherrschten sich. Die Besatzung sammelte sich auf dem Vordeck vor der dritten Steuerbordluke, um die Hämmer zu verstauen. Sie sahen sich nicht an, atmeten nur durch den Mund, um den Gestank des Anderen nicht riechen zu müssen, und verschwanden schweigend und mit steifen Gliedmaßen innenbords.
Die Saudade war gute einhundertvierzig Meter lang, zwanzig Meter breit und hatte einen Tiefgang von knapp acht Metern. Sie war neunzehnhundertsiebenundsechzig auf der Werft in Wismar gebaut und wenig später als Junge Garde in Dienst gestellt worden. Damals war sie das modernste Fang- und Verarbeitungsschiff der Welt gewesen, und seit der Jungfernfahrt befand sich uralter Richard an Bord von ›ROS 317‹. Nach der Wende war es an Portugiesen verkauft worden, doch das war dem Alten egal gewesen. Er war geblieben. Ihm doch Jacke wie Hose, in welcher Sprache der Reeder redete! Der alte Mann quälte sich die Stufen des Niedergangs runter, ging den Längsgang entlang und warf wenig später das Schott hinter sich zu. Mit einem Ächzen ließ er sich auf die Koje fallen, ohne sich irgendetwas auszuziehen. Es schaukelte nicht mehr! Das war die Hauptsache. Jetzt mussten sie im Steuerhaus nur noch darauf achten, dass die Saudade nicht festfror. Der Alte schloss die Augen und streifte sich langsam die Handschuhe ab. Er knöpfte die Wattejacke auf, zog den Reißverschluss nach unten und wälzte sich aus der Jacke, ehe er sich die Mütze, aus dem Fell eines Eisbären gefertigt, abzog und auf den Boden fallen ließ. Er hörte nicht mehr, wie Robert Rösch und Opernsänger ins Deck kamen und nach halbstündigem Duschen in die Kojen kletterten, während der Dritte Offizier mit dem Steuermann auf der Brücke stand und den grünlichen Bildschirm des Sonars nicht aus den Augen ließ. Unzählige Punkte im Umkreis. Die weißen zeigten Unterseeriffe, Korallenbänke und Untiefen an, die blauen andere Trawler sowie Frachter und Tanker, und die kleineren blauen Punkte gehörten zu Barkassen, Fischkuttern und Yachten. Doch nirgends fand sich ein längliches, rotes Gebilde, das die Wärme eines Fischschwarms verriet.
Alle anderen Lichter der Brücke waren ausgeschaltet. Es war so still, dass keiner der beiden Männer es wagte, einen Laut von sich zu geben. Was hätten sie auch sagen sollen? In den letzten sechs Monaten hatten alle Witze schon Dutzende Male die Runde gemacht. Am besten war der des Funkers angekommen. Vielleicht, weil er so kurz war? Vielleicht, weil er so blöd war? Der Dritte Offizier wusste es nicht. Er war knapp über zwanzig Jahre alt und direkt von der Offiziersschule auf die Saudade gekommen. Er stammte aus Marokko und war mit zehn Jahren allein nach Frankreich gekommen, wo er in den ersten Jahren als Stricher gearbeitet hatte, doch nun lebte er seinen Traum. Es hieß, er werde der jüngste Trawlerkapitän aller Zeiten werden, davon hatte er gehört. Und warum auch nicht? Der Dritte grinste den grünen Radarbildschirm an und dachte: ›Zwei Kannibalen essen einen Clown. Meint der eine: Der schmeckt aber komisch!‹
Nur zwei Stunden später zogen die Verarbeiter über die langen Unterhosen und Hemden schlaftrunken das rosafarbene Ölzeug, das an Haken über der Ablaufrinne hing. Die Barschberge waren in Sicht gekommen und einige befanden sich schon in den Frischwassertanks, um sofort verarbeitet zu werden. Der Große Rotbarsch, der auch Gold-Rotbarsch oder Bergilt genannt wurde, bewohnte den nördlichen Atlantik. Von Schweden und Norwegen über Schottland, Irland, Island und Grönland bis zur Ostküste Kanadas und den USA. Obwohl er einen Meter lang und fünfzehn Kilogramm schwer wurde, hatte uralter Richard auch schon Barsche verarbeitet, die zwei Meter lang gewesen waren und dreißig Kilogramm gewogen hatten. Gold-Barsche gebaren lebend und wurden bis zu sechzig Jahre alt. In der Tiefsee wurden sie bei tausend Metern gefangen. Beim Hieven platzte ihnen die Schwimmblase, so dass sie ertranken und deshalb sofort nach dem Fang verarbeitet werden mussten. Ihnen quollen
Weitere Kostenlose Bücher