Letzte Fischer
oft, wann er wohl wie seine Kollegen aussehen würde? Wie viel Zeit werde wohl vergehen? Wie viel Fisch werde von seinen Händen zerlegt werden, ehe er sich nicht mehr von den Fischverarbeitern unterscheide? Er sah an Richard vorbei zu Christian und grinste, weil sich Opernsängers Lippen schon wieder bewegten. Hören konnte Robert nichts, aber er wusste, Opernsänger schmettere schon wieder eine Arie. Er sei gar nicht mehr an Bord des Trawlers.
Christian vertrug sich gut mit dem Lärm. Er nahm ihn als Gesangspartner wahr, doch viel öfter noch als sein persönliches Orchester. Er sang mit dem Lärm, nicht gegen ihn. Er erfand mit ihm zusammen Lieder. Er hörte sich die Lieder des Lärms an und änderte sie nach Lust und Laune. Christian dirigierte sein Orchester wild oder zärtlich, fordernd oder gebend, ermutigend, bisweilen übermütig, und in den ganz großen Momenten gelang ihm alles zusammen. Er geriet schnell in den Rausch des Dirigierens, während er die vier Meter langen Dickdärme, an denen Magen, Galle, Herz und Milz hingen, mit erhabenem Gefühl durch die Halle warf.
Christian baute die Geräusche der Wasserspritzen ein, und manchmal sang und dirigierte er sogar zeitgleich, während er in einem fort die Kadaver leer riss.
Wie jeder professionelle Sänger sah auch er sein Publikum bewusst nicht an. Ihm wurde das grelle Neonlicht zu Bühnenscheinwerfern, in die er konzentriert und selbstbewusst blickte. Er stand im Opernlicht, in dem er immer hatte stehen wollen, und sein schwimmendes Orchester war das größte der Welt. Dafür bewunderte Robert ihn. So konsequent aus dem Alltag verschwinden zu können, das flößte Robert Rösch Respekt ein. Er warf gleich drei Fische hintereinander übers Band und dachte über eine Pause nach. Er müsste nur den Unterarm schräg aufs Fließband legen, so dass der Fisch übers Band fallen würde. Er dürfte sich nur nicht erwischen lassen.
Gleichmäßig schnitt er weiter. Er nutzte den Schwung, um nach dem Schnitt die Schwänze mit den gestreckten Fingern vom Fließband zu schubsen, und nach einem weiteren Moment drückte er auf den schwarzen Knopf der Guillotine , um das Verarbeitungstempo zu erhöhen. Er sah zu seinen beiden Kollegen, die gelassen nickten, ohne aufzusehen, und unerwartet hing ihm nach einer Weile die Leiche von langer Finger wieder vor den Augen.
Er musste die Lider kurz schließen und heftig gegen ein Würgegefühl ankämpfen, ehe er sich fragte, warum der Mann nur seinen Stiefel nicht abgestreift habe. So hätte er sich doch aus dem Netz befreien können! Robert Rösch schluckte, spürte die Speckwürfel des Eintopfes hochkommen und hielt mit aller Kraft dagegen. Er gewann, der Speck wanderte wieder in den Magen, Rösch beruhigte sich damit, dass der Tod im kalten Wasser ein sehr milder sein solle. Er hatte gehört, man merke nicht einmal, wie alle Funktionen eingestellt werden, weil das Hirn sich beim Abtauchen in einem schützenden Schockzustand befinde.
›Gefrierschock‹, dachte Rösch und grinste. ›Die Seele zur See, die See zur Seele, so war es, so ist es, so wird es immer sein. – Und was werde ich vollbracht haben? Wenn sie mich holt? Die See? Ich bin doch der große Feigling an Bord, der nichts zu Ende kriegt. Der vielleicht gar nichts zu Ende bekommen will! – Wer weiß, der weiß!‹
Elf Semester hatte er studiert, nur um vor der Prüfungskommission grandios zu versagen, Robert Rösch erinnerte sich an die verstörten Gesichter der Professoren, als er erklärte, er habe sein Thema kurzfristig geändert.
Er werde über das Peter-Pan-Syndrom referieren.
»Herr Rösch, das PPS ist kein wissenschaftlich fundiertes Phänomen.«
Werde es aber. Er selbst habe dementsprechende Ansätze formuliert, die sich auf das Buch des Psychologen Doktor Dan Kiley beziehen, dessen Fundament wiederum die Bücher von George Bach, Jean Baer, Herbert Benson, David Burns, Alex Comfort, Colette Dowling, David Elkind, Albert Ellis, Marc Fasteau, Herbert Fensterheim, Viktor Frankl, Nancy Friday, Erich Fromm, Eugene T. Gendlin, William Glasser, Sam Janus, Sidney Jourard, Sheldon Kopp, Christopher Lasch, Marilyn Machlowitz, Burton Marks, William H. Masters, Peter Mayle, Donald Meichenbaum, John Money, Betsy Morscher, Norman V. Peale, Debora Phillips, David Reuben, Penelope Russianoff, George Serban und Paul Tillich seien. Dazu komme die eigene Erfahrung als Hochseefischer, als der er während der Semesterferien gearbeitet habe, um das Leben an Bord eines
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