Letzte Fischer
darauf, ob die Tiere lebten oder tot waren. Sie wurden alle geschnitten, wie auch er einst geschnitten worden war. Rösch erinnerte sich kaum noch an das Aussehen der Mutter. Hatten sie nicht immer nur weggeschaut? In die Augen jedenfalls hatten sie sich nie gesehen, Rösch war sich sicher.
Und jetzt sei sie eine Frau mit Löwengesicht , die in der eigenen Kindheit verschwinde, soviel wusste er.
Als er bereit war, sie zur Rede zu stellen, zu fragen, woher er komme, von wem er abstamme, als er bereit war, die Wortlosigkeit zu durchbrechen, da zog sie sich in die eigene Kindheit zurück. Eine Verabschiedung ohne Gruß.
Nie werde er nun erfahren, wer er sei, woher er stamme. Wie solle er da an eine Zukunft glauben, selbstbestimmt und schön?
Sie habe sich in die Demenz geflüchtet, sie habe ihren Sohn als dummen Jungen zurückgelassen, nachdem er schon vor langer Zeit vom Vater zurückgelassen worden sei. Der ersten Verabschiedung ohne Gruß sei die zweite und letzte gefolgt.
Die Leere der Demenz sei bodenlos, erkannte Robert Rösch. Ein Kind wisse nichts von der Kindheit der Eltern.
Ihm sei von der eigenen Mutter die große Angst vor dem Dasein eingeimpft worden. Sie habe ihm die Welt vorenthalten, sie habe ihn ständig mit Lügen und geheuchelten Gefühlen abgespeist. Über sein blindes Vertrauen habe sie oft nur gelacht; und nun sei sie selbst ein sabberndes Mädchen, um das sich zu kümmern er keine Kraft habe.
›Man muss das Schweigen unter Blutsverwandten verbieten‹, dachte er, während er weiter die Fische zerstückelte. ›Notfalls sollen sie sich weiter anbrüllen, anheulen und anflüstern, doch niemals sollen sie auf die Sprache verzichten. Sprache ist der Weg allein. Hass und Wut machen stumm. Wie kann einer die Zukunft wollen, wenn er die Vergangenheit nicht kennt? Wie kann einer sich als Sohn begreifen, der keine Erinnerungen an einen Vater und keine Erfahrungen mit einer Mutter hat? Wie kann so einer dem Gestern entfliehen? Wie kann so einer ein Sohn sein, und was soll so einer anfangen mit einer Mutter, die zum Mädchen geworden ist?‹
Dachte er an seine Mutter, so kamen Robert Rösch trotz ihrer vielen Dummheiten, die sie ihm zugemutet hatte, immer erst die gleichen drei oder vier Sätze in den Sinn, die sie zu ihm gesagt hatte. ›Seit deiner Geburt trinke ich, und zwar jeden Tag, da habe ich angefangen.‹ – ›Ich will auf einer Wiese begraben liegen, ohne Stein, ohne Kreuz, ohne Baum, nichts soll an mich erinnern.‹ – ›Verstehen kann ich deine Reaktion, aber verzeihen werde ich dir niemals.‹ – ›Ach, hätte ich dich doch bloß nicht angerufen.‹ – ›Ich weiß gar nicht, was du überhaupt von mir willst.‹
Robert Rösch warf einen Fisch, den er während seines Gedankengangs gnadenlos zerhackt hatte, übers Band und hörte auf einmal, wie Christian lauthals eine Arie schmetterte: »›Es grünt so grün, wenn Spaniens Blüten blühen! Mein Gott, jetzt hat er’s, und gleich noch mal, wann erblüht das Grün? Wenn die Blüten erblühen!‹«
Robert Rösch sah erleichtert zur Rechten und hielt inne, damit uralter Richard den Berg Fische abarbeiten konnte, der sich angehäuft hatte, wobei er dachte: ›Die Wirklichkeit wird anderswo zur Wahrheit!‹
Er sah Richard zu und lächelte schließlich. Der alte Mann pflüge schon seit Jahrzehnten das Meer, und immer stehe er am Ende mit leeren Händen da. Es störe ihn nicht, Rösch sah es dem Alten an. Er sah dessen steinerne Zufriedenheit und beruhigte sich.
Mathilde blieb auf dem Flugplatz in Laage, nachdem Luise durch die Schleuse verschwunden war. Sie schlenderte durch die Halle, einen Pappbecher Kaffee in der Hand, und wartete auf den Abflug der Maschine. War die Flughafenhalle vor einer Stunde fast leer gewesen, so füllte sie sich jetzt schnell. Für sechs Uhr war ein Flug nach Köln angezeigt, und mehr und mehr kamen jene Mecklenburger zusammen, die ihr Arbeitsleben im Westen verbrachten. Sie waren müde, manche wurden von Frauen oder Männern gebracht, und bei einigen standen sogar Kinder dabei. Wie lange sollte das so noch weitergehen?
Im ganzen Nordosten gab es nur noch fünfhunderttausend Arbeitnehmer, und jetzt hatte auch noch die Universität Rostock ihren Betrieb eingestellt, die älteste Universität im gesamten Ostseeraum. Einzig Schwerin blühte als Landeshauptstadt, doch wen verwalteten die Beamten eigentlich noch? Mathilde stand am Panoramafenster, trank den letzten Schluck, warf den Becher weg und sah die
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