Letzte Fischer
kleine Maschine zur Startbahn rollen. Wie immer hob sie die Hand, und wie immer presste sie die Daumen auf die Zeigefinger. Das Flugzeug gewann schnell an Geschwindigkeit, hob ab und drehte kurz darauf nach Westen ab. ›Nach Westen‹, dachte sie, ›alle wollen immer nur nach Westen.‹
Einundvierzig Jahre war sie alt, ihr Mann war fünf Jahre jünger, sollte sie ihn wirklich überreden, in Mecklenburg Fischbauer zu werden? War es richtig, sich jetzt schon aufs Alter vorzubereiten? Auf das Rentnerleben?
Falls Robert sich überhaupt überreden ließ. Wahrscheinlich ließ er es gar nicht mit sich machen, und vielleicht gab es in acht oder zehn Jahren am Ostseeufer gar keine Kinder mehr, denen sie Nachhilfe geben konnte. Mathilde setzte sich neben einen Jungen, der an der Seite der Mutter vor sich hinstarrte. Er gähnte ungeniert.
Die Mutter unterhielt sich mit einem kleinen Mädchen, das vor ihr stand. Es solle keine Angst haben, in Köln werde es von der Mutter und dem Vater auf dem Flughafen abgeholt. Und während des Fluges kümmere sich ja eine Angestellte des Flugpersonals um das Mädchen. Wie alt es denn gestern geworden sei?
Sechs Jahre.
Dann komme es ja bald in die Schule.
»Kannste froh sein, dass du noch nicht drauf bist«, sagte der Junge plötzlich, den Mathilde auf zwölf oder dreizehn Jahre schätzte.
»Aber Sebastian! Das ist gar nicht wahr, Carmen, die Schule ist sehr schön! Sebastian macht nur Spaß! – Dann hättest du lieber weiter schweigen sollen, wenn du dem armen Kind so etwas sagst«, meinte die Mutter, die ihrem Jungen kurz zuvor noch vorgeworfen hatte, er beteilige sich nie an Unterhaltungen und bleibe immer stumm wie ein Stockfisch.
»Es gibt nichts Langweiligeres als Schule«, murmelte Sebastian vor sich hin, stand auf und ging vor die Flughafenhalle. Mathilde sah ihn draußen mit einem Stock sämtlichen Löwenzahn köpfen, den er erreichen konnte. Die gelben Blüten flogen ins Gras, aus den kahlen Stängeln quoll die gräuliche Flüssigkeit.
Er schlug, immer wilder werdend, auf ganze Zierbüsche ein, als Mathilde an ihm vorbei zum Auto ging. Während sie langsam auf der Autobahn Richtung Norden zurückfuhr, ging ihr ein Satz nicht mehr aus dem Kopf, den sie kürzlich gelesen hatte.
›Ich möchte lieber nicht.‹
Während sie den Peugeot in die Garage fuhr, fiel ihr ein, dieser Satz habe etwas mit Ingwerkeksen zu tun. Ingwerkekse?
Sie zog sich im Flur die Schuhe aus, setzte sich auf den Stuhl neben der Garderobe, massierte sich die Füße und dachte: ›Blöde Designerschuhe!‹
Mathilde stand auf. Sie fragte sich, vor dem großen Flurspiegel stehend, ob sie es lassen solle, Robert an Land holen zu wollen. Mathilde Rösch lächelte und ging ins Schlafzimmer. Sie nahm den Rahmen in die Hand und blickte Robert in die Augen. Eine große Abwesenheit in seinem Blick. In ihn hatte sie sich verliebt, in diesen Blick. In diese Abwesenheit.
Er müsse ihre Erregung gespürt haben, ging es Mathilde durch den Kopf, während sie auf der Terrasse frühstückte und hin und wieder zur Ostsee sah, die heute als Spiegel dalag. Nach all seiner Zärtlichkeit, nach all seinem Tasten und Reden, nach all seinem vorsichtigen Getue hatte er sie gepackt, mit festen Händen an den Unterarmen. Kein Wort hatte er gesagt, als er ihr wenig später die Beifahrertür aufgerissen und sie ins Auto gedrängt hatte.
Sie verließen Greifswald, es war nachts, eine Stunde waren sie gefahren, als Robert quer durch Rostock nach Warnemünde fuhr und am Ortsschild des Urlauberdorfes sagte: »Geh nicht in den Wald, wenn du Angst vor Wölfen hast.«
Ein Satz, der sie erregte, es war ein Satz, den sie ihrem langjährigen Freund niemals zugetraut hätte. Diese ganze Aktion versetzte sie in Erregung. Sie wollte nicht fragen, weil sie keine Antworten wollte. Sie hatte ja schon gespürt, dass dies ein besonderer Tag werden sollte. Sie blieb also sitzen, als er das Auto an der Fähranlegestelle parkte, die Fahrertür kraftvoll zuwarf, um den Wagen herumkam, die Beifahrertür öffnete, ihr den Gurt wegriss und sie aus dem Fahrzeug holte. Als sie wenig später auf dem Scheitel der kleinen Brücke standen, deutete er mit dem linken Arm zum Meer der Masten, während er sie mit der rechten Hand festhielt.
»Welche Yacht?«, fragte ihr Freund.
»Du willst doch nicht . . .?«
»Welche?«
Sie deutete auf eine siebenundzwanzig Fuß lange Yacht mit Bugverstärkung.
»Hochseetauglich! Gute Wahl, meine Kleine!«, sagte er und
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