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Letzte Gruesse

Titel: Letzte Gruesse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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sich der Vorhang in der Rückwand, und eine Stewardeß führte drei laut lachende Männer und eine Dame in rotem, lackledernem Rock herein. Auch sie hatte man«upgegradet», aber nicht weil ihnen das jemand spendiert hatte, sondern wegen einer Überbuchung der Economyclass, Deutsche vom Niederrhein waren das, die sich sofort lärmend ausbreiteten, die Aschenbecher aufklappten und von einem Sessel zum anderen sprangen, ob der besser ist oder der.
    Sowtschick suchte den Blick des Mannes mit dem Handstock um ein Kopfschütteln auszutauschen, aber der nahm nicht Notiz von den veränderten Verhältnissen. Dem waren die Herrschaften vom Niederrhein egal. Er rauchte und las in seinem kleinen Buch, allem Anschein nach einem alten Cotta-Quartband aus dem 19. Jahrhundert. Gegen dieses kleine Buch war Sowtschick ein Waisenknabe, weshalb hatte er nicht eines der Goethe-Bändchen eingesteckt, das hätte jetzt Eindruck machen können … Er legte das Bordheft beiseite, fingerte seinen Terminkalender aus der Tasche und hielt ihn ebenfalls in die Höhe, allerdings mit der Linken und nicht so weit weg, und er entzifferte die Termine, die auf ihn zukommen würden, wenn er wieder in der Heimat ist. Und dann begann er einen nach dem anderen auszustreichen, Verabredungen waren das, die bedeutungsloser wurden, je länger er darüber nachdachte.
    «Soweit kommt das noch!»sagte er laut.«Das hätte mir noch gefehlt.»
    Auch die beiden Geschäftsleute ließen sich nicht stören von der fröhlichen Gesellschaft, sie zogen die Beine ein, verglichen ihre Taschenrechner und machten weiter im Text.
     
    Der Abflug ließ auf sich warten, ein Aggregat solle noch ausgetauscht werden, hieß es, besser ist besser. Irgendwie störte ein klickerndes Geräusch, oder täuschte man sich? Aber gleich geht’s los. Zur Verkürzung der Wartezeit wurde die Musik lauter gestellt und Sekt gereicht, von dem sich die rheinischen Männer und die zweifelhafte Frau nachschenken ließen. Schlimm! Prosteten sie ihm gar zu? Irregulär Upgegradete prosteten ihm, dem legitimen Erste-Klasse-Passagier zu?
    Die Tür zum Cockpit stand offen. Männer im Overall gingen ein und aus. Es zog! Aber störender noch waren die Stewardessen, die wieder und wieder Sekt anboten und Alexander wortreich bedauerten, daß er hier wie angenagelt im Flugzeug sitzen muß und warten, weil es immer noch nicht losgeht. - Den Sekt lehnte Sowtschick ab, der bekomme ihm nicht, aber ein Glas kaltes Wasser wäre schön. Irgendwann hatte er mal Champagner getrunken, trotz größter Bedenken, teures Zeug. Und das war ihm allerdings bekommen! Kein Sodbrennen, keinen Kater - und da hatte er gedacht: Kann ich verstehen, daß Menschen so einem Getränk verfallen. - Aber Sekt? Schaum wein?
     
    Endlich war alles gerichtet. Man habe zwar eine Stunde verloren, hieß es, die werde man aber wieder aufholen über dem Atlantik … Da fragte man sich denn doch, wieso die Maschine nicht gleich eine Stunde später abflog?
    Das Flugzeug wurde zum Rollfeld geschoben, Musik abgestellt, die Abflugzelebrationen heruntergeraspelt. Dann wurden die rieselnden Treibstoffzuflüsse vollends geöffnet, und endlich wuchtete sich der«Vogel»in die Höhe. - Sowtschick steckte den Terminkalender ein und lehnte sich zurück. Der Roman mit seinen Problemen sank dahin, die Affäre mit dem Dünnbrettbohrer und die Fernsehbilder von Brüdern und Schwestern, die brennende Kerzen vor Kirchenportale stellten und dabei von Polizisten behindert wurden.
    «Soft fade out», so hieß das wohl beim Film.
     
    Sowtschick war schon unzählige Male geflogen. Jedesmal sagte er sich: Nie wieder!, denn ihm wurde leicht übel, besonders in kleineren Maschinen, die zu Luftsprüngen neigten.«Keine zehn Pferde!»sagte er jedesmal, aber dann galt es eben doch immer wieder mal nach München zu hüpfen oder nach Berlin.
    Und nun also Amerika, eine Lebensfermate war fällig, sich nicht rühren und sich um Gottes willen nicht vorstellen, wie schön es da drüben werden wird - dann widerfährt einem das Gegenteil - oder welche Unbequemlichkeiten und Verwirrungen sich nähern, kleine oder große!
    Mit dem Schiff den Atlantik zu überqueren wäre zünftiger gewesen. Wie vor dem Krieg die«Bremen»und die«Europa»mit ihren gewaltigen Schornsteinen: Autos werden in den Laderaum gehievt, die Dampftute ertönt, und dann löst sich das Schiff langsam vom Kai, von sechs, acht Schleppern hinausbugsiert … Klingendes Spiel! Und die Leute winken und weinen … Die

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