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Letzte Gruesse

Titel: Letzte Gruesse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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Verlagsprogramm umstoßen?
    Was den Titel betreffe, warum nicht«Charon im Boot»?
    In den letzten Tagen vor der Abreise ging Alexander noch einmal durch das Haus und nahm Abschied von allem. Die Porzellane im Büchergang, die Kaktussammlung seiner Frau und die in Silber gerahmte Winterlandschaft im Schwimmgang.
    Er verabschiedete sich von den Hunden, nahm ihren Kopf zwischen seine Hände und erzählte ihnen, daß das Herrchen weit, weit wegreist, und er versprach ihnen etwas Feines, wenn sie sich artig verhielten. Er verabschiedete sich auch von den Hühnern, die den Kopf skeptisch auf die Seite legten, und von den Schafen Sonja und Amalie. - Die Katze ließ sich nicht blicken, die war aushäusig.
     
    Er setzte sich an den Flügel und spielte ein wenig Schubert. Aber er war nicht bei der Sache. Er ließ es bleiben und stieg hinauf in seine Fluchtburg, schraubte seinen Jubiläumsfüllfederhalter auf und schrieb einen Brief an seine Frau. Daß er sie sehr liebhat, schrieb er, und daß sie ihm in den fast vierzig Jahren eine gute Kameradin gewesen sei. Er klebte den Brief zu und legte ihn auf die Schreibplatte des Barocksekretärs. Oben drauf schrieb er:«An Marianne», und während er das schrieb, füllten sich seine Augen mit Tränen. Siegeln müßte man dieses Dokument, dachte er und griffelte aus einer der vielen kleinen Schubladen das Petschaft hervor, das er von seinem Vater geerbt hatte, diesem stillen, ernsten Mann, der ihn noch immer anblickte und leicht den Kopf schüttelte, der feine goldene Zwicker. Mit sechsundfünfzig als Greis gestorben.«Mußte das sein?»Der Satz stand über seinem Leben.
    Das Petschaft fand sich, aber da war kein Siegellack, der war von den Kindern schon vor Jahren für irgendeinen Spaß verbraucht worden. Also ließ er es bleiben.
     
    Alexander Sowtschick stellte den Fernseher an: Korruptionen waren aufgedeckt worden in Gewerkschaftskreisen, was Sowtschick«mal wieder typisch»fand, und Bilder waren zu sehen aus Berlin. Da wurden junge Leute von Volkspolizei am Betreten einer Kirche gehindert, also Brüder und Schwestern. Kerzen anzünden und aufs Trottoir stellen, das wurde ihnen grade eben noch gestattet. Die Polizisten hätten diese Dinger gern umgestoßen, das sah man ihnen an. Aber lieber nicht. Gegen das Aufstellen von Kerzen ließ sich nicht viel einwenden. Und außerdem schaute das Westfernsehen zu.
     
    In der letzten Nacht warf es Alexander hin und her. Er hatte schon zu oft in falschen Zügen gesessen, als daß ihm eine solche Reise nicht angst gemacht hätte: eine so weite Reise in seinem Alter?
    Wieder und wieder stand er auf, machte Licht, nahm sich seinen Paß vor und blätterte ihn durch, Indien, Ägypten … Das vielfarbene US-Visum, da war es eingestempelt, und es berechtigte zu unbegrenzt häufiger Einreise. Falls es mal einen ernsteren Weltkonflikt geben würde zwischen Ost und West, würde man mit diesem Paß ohne weiteres und jederzeit über den Atlantik fliegen können, zur Rettung von Haut und Haar.
    Aber Marianne? Die hatte ein solches Visum nicht. Warum hatte er daran noch nie gedacht?
     
    Einen Vortrag erwartete man von ihm? Das machte ihm zu schaffen. Er hatte keine Ahnung, worüber er sich vor den Übersetzern würde verbreiten können. Die Sprichwörtersache eignete sich ja nun ganz und gar nicht.«Not lehrt beten»- Formulierungen, über die jeder Deutsche ohne weiteres sofort lacht, würde man den Leutchen dort erst langatmig erklären müssen. Und das ginge natürlich in die Hose. Es sei denn, man nähme englische Sprichwörter und wiese damit nach, daß auch die Angelsachsen Humor haben, wenn auch einen sehr seltsamen. Aber das war ja nicht der Sinn der Sache.«Deutsche Wochen», um die Deutschen ging es, die sollten nun endlich mal ins rechte Licht gerückt werden.
    «Galgenhumor.»- War es das?
     
    Er zählte alle Unannehmlichkeiten, mit denen er es momentan zu tun hatte, an den Fingern her: erstens, zweitens, drittens … Die Affäre Mergenthaler, der kaum begonnene Roman, der Übersetzerkongreß und die grauen Tücher, die ihn gelegentlich anwehten.
    Schwer wälzte er sich im Bett herum, trotz zunächst einer, dann einer zweiten und schließlich einer dritten Pille.
    «Kommt Zeit, kommt Rat»- oder:«Eile mit Weile …», das waren auch so Sprichwörter.
    Vielleicht einen Vortrag halten über die Schwierigkeit, einen Roman zu schreiben? Daß das gar nicht so einfach ist?«Übermut tut selten gut»anstelle von«Karneval über Lethe», auch

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