Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Letzte Gruesse

Titel: Letzte Gruesse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
Vom Netzwerk:
und regnete, war es am gemütlichsten.
    Schade, daß man nicht mehr rauchte, aber gut. Alexander hatte es schon vor zwanzig Jahren aufgegeben. An verteerter Lunge werde ich also nicht eingehen, dachte er. Vielleicht trifft mich aus heiterem Himmel der Schlag?
     
    Um zu erkunden, wo er sich eigentlich befand, ging er einmal durch den ganzen Zug. Eine Kabine neben der anderen, fast alle leer, nur hier und da zugezogene Vorhänge. Zwei orthodoxe Juden sah er, freundliche Eheleute, die einander in die Augen schauten, ein alter Mann mit Buch. Eine Frau sah er in einer Ecke sitzen, die ihr schlafheißes Kind madonnenartig auf dem Schoß wiegte. Er wäre gern an der Tür stehengeblieben und hätte dieses anmutige Bild in sich eingesogen. Um es nie zu vergessen, genügte jedoch ein einziger Augenblick.
    Im Salonwagen saßen zwei Herren mit Zigarre auf drehbaren Sesseln, goldener Siegelring am kleinen Finger, sie tranken Whisky. Sich dazuzusetzen wäre nicht gegangen. Dann wäre es herausgekommen, daß er ein Deutscher ist, einer dieser Stechschrittmenschen, ein Nazi von oben bis unten.
    Aber möglicherweise waren diese beiden Herren ja Bomberpiloten gewesen? Das wäre dann ja auch herausgekommen. Und man hätte endlich etwas Genaueres erfahren über die Gefühle der Menschen, die Bombenteppiche auf Barockkirchen geworfen hatten. Und man hätte fragen können: Meine Herrn, was haben Sie sich eigentlich dabei gedacht?
     
    Der alte Mann mit Buch - bin ich das gewesen?, dachte er, und fast wäre er umgekehrt und hätte mal nachgesehen.
     
    Im Aussichtswagen stand ein einzelnes Pärchen, junge Menschen, die das ganze Leben noch vor sich hatten. Wald, Wald, Wald. Der junge Mann fotografierte, und seine Freundin sah ihm dabei zu: ein Auto, das Schritt zu halten versuchte mit dem Zug. Am Bahnübergang, da mußte es dann stehenbleiben. Der Schwanz des langen Zuges war zu sehen, wenn man aus dem Fenster guckte, der Vergleich mit einem Lindwurm lag nahe.
    Wald, Wald - wer in diese Wälder hineingeriete, würde wohl auch nicht mehr herausfinden … Sie kamen durch kleine Städte, ein Friedhof mit schief stehenden Kreuzen: Der hätte Schätzing gewiß gefallen, dachte Alexander.
     
    Der hintere Teil des Zuges war Menschen vorbehalten, die nicht die Sonnenseite des Lebens kennengelernt hatten. Hier schliefen alte Männer auf ihren Rucksäcken, fette Frauen erzählten sich was, und ein junger Mann spielte mit seinem Hund. Alexander hätte sich zu ihnen setzen können. Hier wäre er bestimmt nicht gefragt worden, ob er ein Nazi ist.
     
    Im allerletzten Waggon, ganz am Ende, stellte er sich an das Fenster der verschlossenen Durchgangstür. Neben sich das festgestellte Rad der Handbremse. Er sah die Schienen unter sich hervorgleiten, und er hätte gerne«Halt!»gerufen.
     
    Zu Mittag aß Alexander im Speisewagen ein gebratenes Hähnchen. Der Kellner rückte ihm das Besteck zurecht und wedelte mit der Serviette. Weil er der einzige Gast war, mußte er sehr lange auf das Essen warten.
    Keine schwedischen Ingenieure beugten sich hier über ihre Konstruktionspläne, keine beschwipsten rheinischen Frohnaturen kreischten auf rheinische Art. Kein Mann mit Handstock hatte hier das Bein hochgelegt, seine Zigarette aus der Spitze rauchend. Wo sein Boss wäre, wurde er von dem Kellner gefragt. Seine Frau war gemeint. Zu Haus gelassen? Wenn das man gutgeht. Hätte er den Kellner fragen sollen, ob er in den letzten Tagen einen Herrn mit hochgelegtem Bein bedient hat? Begleitet von einer kleinen, an sich ganz hübschen Frau? Ihm vormachen, wie jener ein Büchlein weit von sich weghält? Einen Mann, der zaubern kann?
    Wie anders wäre die Fahrt verlaufen, wenn man zusammen gereist wäre. Da wären einem die siebzehn Stunden nicht zu lang geworden. Ob Schätzing ein Kettchen am Handgelenk trug? Die Marke seiner Unterhosen hatte man bereits herausgekriegt.
    Alexander wankte zurück in seine Kabine. Er hatte keine Ahnung, wo er sich befand. Bin ich in Alabama? Oder in Kentucky?, fragte er sich. Was hatte er in diesem Land verloren? Dem Verkauf seiner Bücher diente die Reise nicht, ihrer Verbreitung auch nicht. Niemand kannte ihn, und niemand würde die Hand je für ihn ins Feuer legen.
    Gab es auch in Asien«Deutsche Wochen»? In Afrika? Von dort hatte ihn noch keine Einladung erreicht. Vielleicht ganz gut, möglicherweise hätte er bei der Gelegenheit irreparable Leberschäden mit nach Hause gebracht.
    In Island wäre er gern mal gewesen, die Geisire

Weitere Kostenlose Bücher