Letzte Gruesse
nicht gewaschen. Alexander wischte darüber hin, und er tastete mit dem Fuß auf den Bahnsteig vor, waren denn hier Löcher, in die man hineinfallen konnte? Der schwarze Zugschaffner faßte ihn unter, aber es ging schon. Noch nie hatte ihn ein Mann so untergefaßt und geleitet. Die Kraft, die von ihm ausging!
Er hätte sich gewünscht, daß ihn sein ganzes Leben hindurch ein Mensch, ein Mann so geleitet hätte, diese Kraft! Immer war er es gewesen, der stützen mußte und ermuntern.
Allein mußte man durchs Ziel laufen. Wer sich stützen läßt, wird disqualifiziert?
30
Ein freundlicher, stiller Mann mit runder Zwanzigerjahrebrille erwartete ihn, an einen VW-Bus gelehnt, ein Pfeifenraucher, der den nordischen Namen Hansen trug. Aus dem Bus erscholl edle Musik, und sie blieben eine Weile vor der offnen Tür stehen: Daß man dieser Musik nicht sofort das Gas abdrehen kann, der Meinung waren sie beide, aber dann taten sie es schließlich eben doch.
Sie verstauten sich und: Es sei ein ziemliches Ende, wurde gesagt. Alexanders Augennebel hatten sich verflüchtigt, er sah wieder klar, und er hörte, das geöffnete Notizbuch auf dem Schoß, dem stillen Herrn zu, der die Reihe der Schriftsteller herzählte, die hier schon im Rahmen der«Deutschen Wochen»Gast gewesen waren. Alle hatten sich irgendwie vorbeibenommen. Heiderjahn war bereits betrunken aus dem Zug gestiegen und hatte sofort nach Whisky verlangt. Andere waren drauf und dran gewesen, stehenden Fußes umzukehren und sofort nach Hause zurückzufahren. Auf was für einem Kaff sie denn hier gelandet wären? Und Amerika? Diese Wall-Street-Schweinereien? Überall hatten sie die Finger drin. War Amerika nicht an allem schuld?
Ellen Butt-Prömse hatte es ein bißchen zu doll getrieben. In ihrem Engagement für weibliche Jugend hatte sie mit den Mädchen des Colleges zwar nicht als lichtweiße Gestalt am Waldesrand getanzt im brechenden Taulicht der Sonne, aber sie hatte die schönen Kinder aufgehetzt gegen die Gesellschaft im allgemeinen und die Collegeleitung im besonderen. Und sie hatte sich in den Schlafräumen der Mädchen aufgehalten zur Unzeit.
Scharrenhejm war aller Welt auf die Nerven gegangen mit seinem Wunsch, die arbeitende Klasse zu besichtigen. Fabriken hatte er sehen wollen und Schlachthöfe. Aber hier gab es keine Fabriken, und Schlachthöfe schon gar nicht. Und wie sollte man denn Werktätige dazu bewegen, mit einem Schriftsteller zu diskutieren, dessen Sprache sie nicht verstanden? Er hatte geglaubt, man verberge etwas vor ihm und richte irgendwelche Potemkinsche Dörfer auf. Er kriege das schon noch raus!, hatte er gesagt. Schließlich seien sie mit ihm an den Fluß gefahren, wo eine kinderreiche Familie sich mit einem Wohnwagen niedergelassen hatte. Die Frau hatte gerade Wäsche aufgehängt, als sie da ankamen. Das mochte für einen Slum herhalten.
Auch Schätzing sei ein Reinfall gewesen. Und für diesen Mann habe er sich so eingesetzt! Er kenne von ihm jede Zeile, wie trockner Wein seien seine Gedichte, in ihrer Kantigkeit unbegreiflich schön … Aber als Mensch? Schätzing habe sich schlichtweg geweigert aufzutreten. Nicht die Tatsache, daß er hier in Begleitung eines Mädchens erschienen war, hatte Probleme gemacht: aufs Zimmer gegangen, zugeschlossen und die Tür nicht wieder geöffnet. Dieses Verhalten habe die Damen im College aufs äußerste empört. Er habe alles versucht, sei wiederholt an seiner Zimmertür gewesen und habe durch einen Spalt hindurch versucht, ihn zur Vernunft zu bringen. Auch eine Intervention der Begleiterin sei vergeblich gewesen. Eine ganz nette Frau übrigens, sie hatte alles eingesehen, aber sie hatte nichts machen können. Schätzing habe übrigens ziemlich bald nach einem Arzt verlangt. Das Knie! Eine schlimme Sache.
«Wenn Sie mich fragen: Krebs!»
Ob es in der Bundesrepublik nicht irgendeine Instanz gebe, die es verhindert, daß solche Leute als Botschafter der deutschen Kultur ins Ausland geschickt werden?, fragte Hansen. Das sei doch direkt, wie sage man, kontraprodukiv? Er sei jetzt seit vierzehn Jahren in den Staaten und immer, immer wieder erlebe er es, daß man die sonderbarsten Halbleute herüberschicke. Die Autoren aus der DDR im vorigen Jahr hatten einen ganz anderen Eindruck gemacht, stille freundliche Menschen, die im wesentlichen den Mund hielten. Die nichts forderten, sondern was mitbrachten, eine Schachtel Waffelbrot, ein Päckchen Harzer Käse, Bildbände über Dresden, die
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