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Letzte Gruesse

Titel: Letzte Gruesse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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Pelikane, für Möwen gehalten zunächst, segelten über der Wasseroberfläche dahin, in ihrem Schnabelsack größere Fische transportierend, die wahrscheinlich noch am Leben waren.
    Er hatte nicht gedacht, daß er diese Tiere eines Tages in natura zu sehen kriegte.
     
    Man hatte über das Meer gedeutet und zu ihm gesagt: Wer genau hinguckt, kann Wale sehen. An den Atemfontänen lassen sie sich ausmachen. Aber Alexander interessierte sich nicht für diese Tiere, im Fernsehen waren sie oft genug aus nächster Nähe vorgeführt worden: die triefende Schwanzflosse mühsam emporgewuchtet aus dem Wasser und wieder hineingeplatscht. Oder in geschlachtetem Zustand, auf der Seite liegend, den letzten Seufzer kaum vernehmbar aus sich herausgepreßt.
    Alle Welt setzte sich ein für diese Tiere, nun schon seit Jahrzehnten, und es half ja doch nichts! Die großen, sich wälzenden Riefelleiber dienten der Menschheit zu Katzenfutter und«zu Forschungszwecken». Nie hörte man von den Ergebnissen dieser Forschungen. Daß sie sich verminderten, bis zu ihrem endgültigen Verschwinden, wie der Beutelwolf in Australien, das war zu erwarten. In den Illustrierten waren die blutigen Schlachtereien auf norwegischen Trawlern mit viel Rot dokumentiert, mit vorwurfsvollen Kommentaren versehen, und nichts änderte sich.
    Nichts widerwärtiger als«Moby Dick», dieses Buch da, vom Film gar nicht zu reden. Nie, nie würde er das Buch lesen.
    Jonah and the whale … Er selbst war verschluckt worden und wie Jonas wieder ausgespien, und die Eindrücke der Finsternis hatten sich als verwertbar erwiesen.
    «Es gelang mir, das Beste daraus zu machen», sprach Alexander laut in die Gegend.«Weil ich überlebt habe! Man muß nur alt genug werden …»
     
    Alexander interessierte sich nicht für die Wale, sondern für das Plankton, von dem sich die Tiere ernährten. Sterne mit Tentakeln in jede Richtung, fleischliche Schneeflocken, winzig kleine, strahlende Sonnen. Zu Millionen wurden sie aufgefischt von den Walen mit einem einzigen Happs, von den Barten zurückgehalten, sodann hinuntergeschluckt, Lebewesen, die im Augenblick ihres Todes andere Lebewesen fraßen, miteinander kopulierten, Eier legten oder ausschlüpften …
     
    Alexander Sowtschick, ausgezeichnet mit dem Keyserling-Ring, dem Hebbel-Preis, Verfasser etlicher Bücher, verheiratet, zwei Kinder, saß auf den Klippen, das Wasser schlug dagegen und floß schäumend wieder ab. Wer ihn jetzt hätte suchen wollen, hätte lange suchen können.
    Niemand ließ sich sehen am Strand, es war vormittags, nicht die rechte Zeit für Spaziergänger. Nur Drachenflieger zogen ihre Runden, von der Steilküste stürzten sie sich herab und glitten über das Meer, braungebrannte, muskulöse Männer. Sowtschick setzte seine getönte Brille auf, um die Wagehälse gegen das grelle Blau des Himmels ausmachen und ihre Gleitflüge verfolgen zu können. Immer dieselben Hinabstürzereien und immer dieselben Kurven. So wie die Mutter gerufen hatte:«Fall nicht!», so hätte er die jungen Männer gern warnen mögen:«Seht euch vor!»
     
    Als er es satt hatte, den Burschen zuzugucken, wechselte er erneut die Brille und sah sich seine vom Seewasser gesäuberten Finger an, spreizte sie und ballte sie zur Faust: die Fingerkuppe des linken Zeigefingers, aus der ihm einmal eine Krankenschwester Blut abgesaugt hatte, fein zwischen zwei Kapillarlinien angesetzt - lange noch hatte das geschmerzt -, der vierte Finger der linken Hand mit der noch erkennbaren Narbe, von einer Verletzung herrührend, die er sich beigebracht hatte, als er ein neuartiges Spargelschälmesser ausprobieren wollte. Und der überbreite Nagel des rechten Daumens. Als Kind einen Nietnagel unvorsichtig abgerissen, und dann war die ganze Geschichte vereitert.
     
    Hände, die viel geschrieben hatten, Briefe: in fünfzig Jahren nicht viel Lesenswertes. Aber Tagebücher! In den Kladden hatte er manchen Fluch ausgestoßen, aber auch manch inniges Bekenntnis formuliert. Bücher - jedesmal der sich verdichtenden Sprache nachgeschrieben, abfahrenden Zügen nachgerannt, wie er es ausdrückte -, die abnehmende Freude von Buch zu Buch, das neue Erzeugnis in einem Schaufenster zu sehen. Und der abnehmende Ärger, die aus sich herausgestellten Gedanken verrissen zu sehen in dümmlichen Feuilletons.
     
    Die Knüppelschaltung seines Autos, die Hand fest draufgelegt, gedrückt und den nächsten Gang eingeschoben … Das war es gewesen, was er sein ganzes Leben lang getan

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