Letzte Gruesse
sich seinen guten Anzug an. Dann aß er gebratene Mushrooms mit Shrimps und Orangenmarmelade.«Deutsche Wochen»- das Konzert!
Die h-Moll-Messe kannte Alexander noch nicht. Er kannte zwar die Passionen und auch die Kunst der Fuge, aber diese Messe? Es hatte sich bisher noch nicht ergeben, daß sie ihm begegnet wäre. So was kann ja passieren.
Weil Scharrenhejm, wie er sagte, mit Musik nichts am Hut habe und Prack mit dem Flottmachen des Weltschiffs beschäftigt war, hatte man ihm die Karte für das ausverkaufte Konzert geben können. Der Andrang sei enorm! Es hatte sich wirklich niemand anders finden lassen für diese Kontingentkarte. Es hätte noch eine zweite zur Verfügung gestanden für Alexander. Aber wo hätte er die Countryfrau mit den kurzen Hosen in dieser Stadt suchen sollen?
In diesem Konzerthaus wurde gewöhnlich Puccini gegeben: goldverzierte barocke Brüstungen und ein dunkelroter Samtvorhang, Puccini oder Smetana. Und nun also Johann Sebastian«Bäck». Weibliche Fleischsäulen mit Hängekleidern drängten in die Reihen, Männer in dunklem Anzug, andere mit offner Brust. Aus der Art geschlagene, baumlange Frauen mit winzigen, vom Schreibtisch weggeholten Geldverdienemännern. Und umgekehrt: sehr große Männer mit winzigen Frauen, die sich als Harlekin eingekleidet hatten. Auch Kinder, denen man es mal zeigen wollte, wie weit man es bringt, wenn man fleißig ist.
All diese Menschen sehnten sich nach Erquickung durch eine Musik, die jemand, der eine Perücke auf dem Kopf trug, vor zweihundertfünfzig Jahren in interpretationsbedürftige Noten gesetzt hatte, Musik, die, wie man es in dem Prospekt las, von allerletzten Dingen handelte. Achtundneunzigtausendachthundertundachtundachtzig wimmelnde Notenköpfe harrten der Umsetzung in Schallwellen durch vierundachtzig Musiker. Neunhundertzweiundzwanzig Ohren hatten sich geöffnet, mit und ohne Hörgerät, um sich anzuhören, was da nun zeugen sollte von Europa und insbesondere von Deutschland, diesem höchst sonderbaren Land, mit Menschen, die eher mit einer Maschinenpistole umgehen konnten als mit einer Oboe d’amore. Dieser Mann hatte jeden Tag, den Gott ihm schenkte,wenn man richtig rechnete, anderthalb Kompositionen geschrieben! Auch das stand in dem Programmheft, also insgesamt über zwanzigtausend;«der zehnte Evangelist»werde er auch genannt, all solche Sachen, und daß man ihn lieber«Meer»hätte nennen sollen. Tausende von Kompositionen geschrieben, wovon die Hälfte verloren - und außerdem noch zwei Frauen und zehn Kinder gezeugt beziehungsweise ernährt. Wie war das bloß zu fassen?
Alexander setzte sich bequem hin, links neben ihm saß eine blühende Ostasiatin, aber der Platz zur Rechten war frei, er konnte also Schräglage einnehmen. Man muß auch einmal im Leben vom Glück begünstigt werden.
Musiker und Chor, extra aus Köln eingeflogen, hatten sich auf der Bühne bereits eingerichtet. Es hätte losgehen können, aber bevor noch der Dirigent die Hände heben konnte, polterte es vom dritten Rang herab: All die Leute, die unten im Parkett freie Plätze erspäht hatten, wollten sich auf eigene Kappe«upgraden», und dazu war es jetzt allerhöchste Zeit. Neben Alexander drängte sich also ein nach Heidschnucken riechender junger Mann, der ziemlich sofort eine Taschenpartitur aufblätterte.
Kyrie eleison! - Einen Augenblick dachte Alexander, der deutsche Dirigent, ein kleiner Mann mit großen Händen, würde vor Beginn des Konzerts noch irgend etwas sagen, daß es ihn freut, in diesem wunderbaren Land gastieren zu dürfen, in einer Stadt, die er besonders liebt, zum Beispiel, und daß er hofft, diese Musik werde dazu beitragen, daß nie wieder Unheil über die Welt von Deutschland ausgeht, einem Land, das eigentlich gar nicht so verkehrt ist und doch auch einiges Gute aufzuweisen hat … Oder vielleicht ein Gebet sprechen:«Der Herr lasse leuchten sein Angesicht über uns …», so wie es die Studenten bei den Mormonen getan hatten?
«Alle Deutschen mal eben aufstehen!»
Applaus?
Das geschah nun nicht, und es wurde auch nicht gebetet. Es ging ohne weiteres los. Der Chor holte tief Luft, und unter dem Geheul der Klimaanlage schaufelte der Dirigent mit seinen großen Händen die Klangfische von links nach rechts und umgekehrt. Und alsbald trieb Alexander dahin als ein Stück Borke auf dem Fluß.
Das überlaut gebrüllte Gloria, nun ja, und das juristisch eingefärbte Credo. Aber dann, darin ganz unversehens:«Crucifixus
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