Letzte Gruesse
Ecke an, von wo aus nichts zu sehen war als stockfinstere Nacht. Keine Autoschlangen, keine erleuchteten Straßenschluchten, keine rot aufblinkenden Hubschrauber: nichts als pechschwarze Nacht …
Alexander guckte hinunter in die finstere Tiefe. Und er guckte sich in die Dunkelheit hinein«fest». Bei Gott, es war dunkel dort unten, nur ein einzelnes, schwimmendes Licht war zu erkennen. Ein beleuchtetes Boot? Vielleicht eine späte Fähre … Auf einem See oder einem Fluß? Ein nicht fließender Fluß? Schwarzes Wasser … Auch ein guter Titel, dachte er. Aber wahrscheinlich gibt es das schon. -«Karneval über Lethe»war besser. Das einzelne Licht schwamm immer weiter an den Rand und erlosch schließlich.
An den Panoramafenstern des Restaurants saß eine Gruppe lebhafter Herren, eine Versammlung von Freunden, die den Erinnerungen an alte Zeiten nachhingen. Schulkameraden? Dasselbe College besucht? Oder Zweiter Weltkrieg? In Okinawa gelandet? Waren das am Ende Bomberpiloten? Dachten sie darüber nach, wie man auf diese Stadt Bombenteppiche mit optimaler Wirkung abladen könnte?
Alexander trank einen Pernod und aß Lachs. Er bat um Ansichtspostkarten und schrieb an Engelbert von Dornhagen.«Ich sitze hier im 96. Stockwerk … Die Aussicht ist atemberaubend …», das schrieb er, obwohl er doch gar nichts sah.
«Lethe überm Karneval», schrieb er Marianne auf eine Karte, auf der erleuchtete Wolkenkratzer abgebildet waren und Straßenschluchten mit Autos, vorn gelb, hinten rot.«Lethe überm Karneval»: Das gab seine Stimmung wider. Vielleicht würde sie das verstehen.
Man ließ ihm nicht viel Zeit zum Meditieren. Kaum hatte er den Lachs verspeist, der zäh und trocken war, kriegte er einen gelben Puddingklacks hingestellt mit Schokoladenkringel drauf in Form einer 96. Und dann kam auch schon der Kellner und fragte, ob er noch irgend etwas für ihn tun kann. Daß der einsame Gast den Aschenbecher mit der«96»einstecken würde, war ihm klar, das war einkalkuliert, das taten alle Gäste.«Deutscher?»fragte der Kellner und wedelte die Krümel von der Tischdecke. Nach Rasierwasser roch er.
Vor dem Hinaufgeschleudertwerden ins oberste Stockwerk hatte Alexander keine Angst gehabt. Aber als er nun so ganz allein in die Liftkabine stieg und auf«Entrance»drückte, war ihm doch mulmig zumute. In einen dunklen Schacht zu stürzen, über hundert Meter tief? - Und es gab tatsächlich«troubles», das Ding blieb stehen. Ziemlich lange schwebte Alexander zwischen dem siebenundfünfzigsten und dem sechsundfünfzigsten Stock. Dann aber besann sich der Apparat, es ruckelte, und er sauste hinab in die Tiefe. Als er dann aus dem Haus trat, sah er Feuerwehren auf der Straße stehen.
«Kommen Sie von oben?»wurde er gefragt. - Hatte er denn Glück gehabt?
Der Abend im Institut. Er redete den fünfzehn Zuhörern, an seinen Notizzetteln entlang, etwas über das Schreiben von Romanen vor: Wie man es anstellen muß, daß man das hinkriegt, eigentlich ganz einfach, aber doch ziemlich schwierig.
Danach wollte er den Zuhörern berichten, daß sich seine Reise dem Ende nähere, und er wollte herzählen, wo überall er gewesen war. Daß er in Boston Fischsuppe gegessen und sich bei den Indianern fast verirrt hatte und heute im Fahrstuhl steckengeblieben! Das fiel ihm ein, aber sonst?
Wo war ich sonst noch? Was habe ich eigentlich erlebt?, dachte er, es fiel ihm nichts ein.
Während er sprach, dachte er an manches andere, an ganz was anderes, das trieb ihn so dahin. Wie er die Sache mit dem«Dünnbrettbohrer»vom Tisch kriegt, daran dachte er, und dann kamen ihm Erinnerungen an einen Badeurlaub in Ostpreußen, lange her, die kleine Schwester, wie sie zu ihm aufgeschaut hatte, und ein Jahr später war sie schon tot. Scharlach! Das Schwimmen hatte er ihr beigebracht.
«Karneval über Lethe»: Als er an sein Buch dachte, sah er keinen Faschingszug vor sich, sondern apokalyptische Reiter mit Stundenglas in der Hand, und der geschlängelte Fluß tief darunter war schwarz.
Obwohl er doch in Chicago war, sagte Alexander zu den Leuten, die da vor ihm saßen, daß er sich freut, hier in Boston zu sein, und dann verschwammen ihm die Notizen vor den Augen, und er sagte: Ich muß mich einen Augenblick setzen, und man brachte ihm ein Glas Wasser. Die Leute in den hinteren Reihen standen auf, was denn los ist mit dem deutschen Gast? War wohl alles ein bißchen viel? Sah schon gleich so mickrig aus. Hatte man schon
Weitere Kostenlose Bücher