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Letzte Gruesse

Titel: Letzte Gruesse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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…», dieses gefaßte Hinabschreiten, eine Stufe nach der andern, hinab, hinab … das war es, was ihn einholte. Armer Sowtschick, woran dachtest du in dieser Stunde?
    Wie ist es möglich, das war es so ungefähr, was er dachte, wie kann so etwas geschehen?
    Es ist alles umsonst, auch das dachte Alexander.
     
    Oberhalb der Bühne lief auf einem Lichtband der Text der Messe mit, und zwar in Latein, Englisch und Japanisch. Und das war es, was Alexander errettete von peinlichen Erschütterungen. Auch der junge Mann neben ihm lenkte ihn durchaus angenehm ab, das regelmäßige Umblättern sorgte für Façon … Es erfuhr beim Sanctus einen Aufenthalt, rasches Hin- und Herblättern - war denn was gestrichen worden?
     
    Die Messe ward nicht durch ein Amen abgeschlossen, auch ein Hallelujah war nicht vorgesehen, das man eventuell gesondert hätte auf eine Platte pressen können. Wann Schluß war, merkten die Leute auch so. Wollte der Dirigent noch etwas sagen? Stand ein bißchen unentschlossen da. Bitte nicht klatschen … oder gar: God bless Amerika?
    Warum nicht sagen: Gott schütze unser deutsches Vaterland? Was war dagegen einzuwenden?
     
    Zur Nacht aß Alexander weder japanisch noch chinesisch, er ließ sich eine Portion Pommes frites aufs Zimmer bringen mit Mayonnaise, und er tunkte die Fritten der Reihe nach ein, und er wußte: Das würde ihm bekommen, auch wenn sie aus gepreßtem Kartoffelmehl bestanden und die Mayonnaise klumpig war. Er würde sich nicht wieder auf das Sofa eines Institutsleiters betten lassen müssen. Dies würde er bei sich behalten.
     
    Es war schon spät, als er sich die Arbeit von Kirregaard griff. Der Fernsehkasten blieb unangeschaltet, in dem flogen die Bilder wie gefangene Fliegen gegen die schwarze Scheibe. Ein großer Tag war das gewesen.«Der Brautzug im Frühling», das«Crucifixus», der aus dem Kaufhaus stürzende Mann - gleichviel. Es waren noch zwei Stunden übrig von diesem außerordentlichen Tag: Also den«Gleitflug»lesen und damit zur Ruhe kommen. Warum nicht? Er blätterte lustlos darin herum, sauber getippt war der Text jedenfalls, das war schon mal positiv … Und dann las er sich fest. Das war ja ganz ausgezeichnet! Keine sozialen Anklagen, kein Wettern gegen Leute, die so was ja doch nicht lesen würden, kein Rezept für das Flottmachen des Weltenschiffs - um die sehr einfache Darstellung einer Lebenswanderung handelte es sich,«unprätentiös»würde das ein Lektor nennen.«Sieh an», dachte Alexander.«Das hätte ich ihm gar nicht zugetraut. »
     
    Im Bett nahm er sich den Brief von Schätzing noch einmal vor. Und während er an ihm roch, stoppten die Autos unten vor der Ampel und fuhren wieder an, stoppten und fuhren an. Und das blaue Licht der Leuchtreklame von gegenüber ging an - aus - an - aus, und der Widerschein bildete sich auf der Tapete ab.

35
    In Chicago pfiff der Wind um die Ecken.«Tschaikägo», wie er mal als Schüler gesagt hatte, und der Lehrer hatte ihm das durchgehen lassen. Der wußte wohl selbst nicht so genau, wie’s richtig heißt.
    Gangsterfilme in schwarzweiß? Schlachthofskandale?
    Nun doch gut, daß er seinen Pullover nicht zurückgeschickt hatte, auch seine Mehrzweckjacke leistete ihm gute Dienste, mit den Schnüren und Reißverschlüssen ließ sich jede Ritze schließen. Winzige Schneeflocken wehten über das Pflaster, und er lief durch die strenge,«männliche»City und sah sich die eleganten Hochhäuser an, aluminiumverkleidet, deren Silberfenster die gegenüberliegenden Häuser krickelig widerspiegelten.
    «Viele Deutsche gibt es in dieser Stadt und viele Polen …»
     
    An einer Ecke sah er Streikposten auf- und abgehen:«On Strike!», die Jackenkragen aufgestellt, das waren Angestellte eines Zeitungsverlages, die seit zwei Jahren gegen ihre Entlassung protestierten. Thermosflaschen voll Kaffee wurden ihnen gebracht. Eine ältere Frau stand mitten auf der Straße, mit Kind, ganz in Schwarz. Sie rief:«Please, can you help me?»- Hatte sie die Orientierung verloren? Brauchte sie Geld?
    Da sie niemanden direkt ansprach, blieb keiner stehen, keiner fühlte sich zuständig. Eine Ecke weiter sammelten Wohltätigkeitsmenschen mit einer Glocke in der Hand Geld für einen guten Zweck, die hatten mit dieser Frau nichts zu tun.
     
    Als er Marianne anrief, meldete sich ein dänischer Jüngling. Ja, er kann Marianne ohne weiteres sofort an den Apparat holen, das läßt sich ohne weiteres machen …
    Dies war Alexander nicht recht. Saß der

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