Letzte Gruesse
betrunken gewesen war und vielleicht noch immer nicht ganz nüchtern.
Lucie erwartete ihren Gast hinter der Haustür. Sie guckte durch das Guckloch, schob viele Riegel, einen nach dem andern, zur Seite und schloß Schlösser auf, aber sie tat das erst, nachdem der Mann auf der Treppe, der ihr Vetter war, ihr ins Guckloch hinein fröhliche Vertrautheit signalisiert hatte. Ich bins tatsächlich! Ich bin dein leiblicher Vetter!
Man umarmte sich und besichtigte sodann die Riegel und Schlösser an der Tür. Sicherheitsvorkehrungen, die die alleinstehenden Frauen dieser Stadt installierten, damit sie in ihrer Wohnung nicht überfallen und vergewaltigt werden. Erst kürzlich waren Eisenstangen angebracht worden, wie Strebepfeiler einer Kirche, von innen schräg gegen die Tür gestemmt und im Fußboden fest verankert. Man hatte den Hausmeister im Keller erstochen! Das war wie eine letzte Warnung gewesen.
Und dann saß er an einem runden Tisch in fremder Luft, und eine alte Frau mit Make-up, die seine Kusine Lucie war, saß auf dem Sofa unter der«Toteninsel»von Böcklin und fragte, wie’s ihm geht. Sie aßen kleine grüne, sehr süße Kuchen und tranken scharf gerösteten Kaffee, und Lucie nahm einen Kognak nach dem andern.
Alexander erzählte, daß er gestern, bums!, umgefallen wär und daß das wie eine Erleichterung gewesen sei;«geschafft!»habe er gedacht,«ich hab’s geschafft!»Und er erfuhr, daß sein Onkel schon vor fünfzehn Jahren umgefallen und gestorben war und die Tante vor sechzehn. An der Wand hing ein Foto der beiden Eheleute in goldenem Rahmen. Lucie deutete auf ihren Vater und sagte:«Das ist er!»(«Gewesen», dachte Alexander.) Eine verschobene Ähnlichkeit mit seinem Vater war nicht zu verkennen. Etwas gewitzter als der immer ernste Vater war der Onkel gewesen, das war erzählt worden, und das war auf dem Bild zu erkennen. Nicht umsonst war er in den Dreißigern nach Amerika gegangen. Der hatte die Zeichen der Zeit erkannt. Die andern waren zu Haus geblieben, die hatten den Kopf eingezogen und alles über sich ergehen lassen. Während sein Bruder sonntags zum Schießdienst der SA gehen mußte, hatte er in Chicago Zigarren gedreht.
Aber egal, nun waren beide tot.
Die Kusine trank einen Kognak nach dem andern und fragte:«Warum hat sich dein Vater nie mehr gemeldet?»Für die Carepakete gedankt, aber dann nichts mehr von sich hören lassen? Hatte man sich nichts mehr zu sagen gehabt?
Alexander nahm auch einen Kognak und ließ sich Kaffee nachschenken.
Nebenan, im Schlafzimmer, das konnte man sehen, war das Bett ungemacht.
Auf dem Bücherbord standen Fotos von Lucies Brüdern, extra hervorgekramt für den Besuch: beide in US-Uniform, beide gefallen, der eine in der Normandie, der andere, Richard, als Handelsmatrose im Atlantik ertrunken.
Alexander erinnerte sich an deutsche Wochenschauen im Krieg, der deutsche U-Boot-Kapitän peilt durchs Periskop, ob er getroffen hat, und das torpedierte Schiff stellt sich auf und verschwindet unter der Triumphfanfare der deutschen Wochenschau mit dem Heck voran im Wasser.
Lucie wurde auf einmal fröhlich: Prost!, rief sie. Sie war übriggeblieben. Sie hatte den ganzen Krieg über Flugzeugrümpfe genietet und den Supervisor ihrer Abteilung geheiratet, der allerdings inzwischen auch schon verstorben war. Zwei Töchter, beide übrigens in Bremen verheiratet. Lustig, nicht?«Haben sich die denn nie bei dir gemeldet?»
Sie trug allerhand Medizinen herbei und legte sie neben den Kuchenteller. Sie nehme inzwischen siebzehn Pillen pro Tag!, sagte sie und zählte an den Fingern her, wozu sie im einzelnen gut waren, und keine Ahnung, was aus ihr geworden wäre, wenn es die moderne Medizin nicht gebe. Neues Hüftgelenk! Daß sie geliftet worden war, konnte man sehen.
Auch Alexander zählte seine Pillen her und sagte: Gestern abend, bums!, sei er umgefallen, und daß er gar nicht gewußt hätte, wie ihm geschah. Ein wundervolles Gefühl übrigens, so federleicht und unbeschwert, als ob sich alles erledigt hätte.
«Wie Dad», sagte Lucie, aber der sei damals nicht wieder aufgestanden.
Der Kuchenteller wurde zur Seite geschoben. Prost!, hieß es, und dann wurden Fotoalben aufgeschlagen, Briefe aufgeknittert, auch ein Brief von Alexander selbst, Ferien in Königsberg, in Schülerhandschrift:«Wie geht es Dir? Mir geht es gut.»Ein sogenannter Bedanke-mich-Brief an die Tante war das gewesen. Alexander sah sich sitzen und diesen Brief schreiben. Die
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