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Letzte Gruesse

Titel: Letzte Gruesse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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ehrlich seine Meinung zu sagen. - Er habe seine Kindheitserinnerungen zu Papier gebracht, seine Frau wisse gar nichts davon! Ob Alexander sich das Manuskript nicht vielleicht mal ansehen könne? Er meine, jetzt habe er doch Zeit dazu.
    Der festgenagelte Sowtschick mußte alles über sich ergehen lassen, er konnte es in seiner Position nicht einmal riskieren, eine drängende Blähung auszulassen.
    Dr. Kirregaard gab eine ziemlich eingehende Inhaltsangabe seiner Kindheit ab. Er habe als Kind seine Mutter auf dem Topf urinieren sehen, sagte er, das lasse ihn nicht los, das sei schlechthin das Schlüsselerlebnis seines Lebens … seither müsse er nämlich immerfort denken, er sei eine Art Abschaum.
    Manche durchwachte Nacht habe er verbracht mit der Aufarbeitung seiner Kindheit, die Atemzüge der schlafenden Gattin neben sich. Irgendwie habe er sich verändert bei dieser Aufarbeitung, und seine Frau habe das gespürt! Sie habe gesagt: Du bist so anders geworden. Hast du was?
    Was die Form angehe, da habe er an eine Dreiteilung gedacht: Traum, Desaster und Apotheose. Titel vielleicht:«Gleitflug»? Was Sowtschick dazu sage? Sowtschick wußte es ja auch nicht. Er hatte seine Mutter nicht auf dem Topf urinieren gesehen, er konnte hier nicht mithalten.
     
    Das Referat nahm erst ein Ende, als die Sprechanlage schnurrte. Kirregaard schaute zur Uhr und rief«O Gott!»und stürmte hinaus. Professor Phallenberg wartete.
    Ob dieser Mann, aus Oregon herbeigeeilt, wohl auch mit ihm sprechen wollte?, fragte sich Sowtschick. Würde Kirregaard ihn gar hereinführen?
    Der Elefant hob lurenartig den Rüssel, aber die Tür öffnete sich nicht. Der Herr hatte andere Sorgen, wie es schien.
     
    Sowtschick stand auf, und als der Kulturbeamte nach einer Stunde wieder hereinstürmte: Wo war man stehengeblieben?, trat Alexander ihm, von den Toten auferstanden, lächelnd entgegen, und er sagte, so was gäb’s wohl in der ganzen Welt kein zweites Mal, daß mitten in New York jemand, der seine Zeit nicht gestohlen hat, sein Arbeitszimmer aus freien Stücken mit einem Kranken teilt!
    Dr. Kirregaard kam sich unter diesen Worten von Herzen gut vor, das christliche Abendland kam ihm in den Sinn, die heilige Elisabeth, mit der er als Verwaltungsmensch ansonsten nicht viel zu schaffen hatte, und er schmolz in Güte dahin.
    Er führte Alexander in das kleine Gästezimmer des Instituts hinüber. Es war wirklich sehr klein, eine Art Koje mit angegliederter Naßzelle. Kleiner ging es nicht! Gerade eben hatte es Adolf Schätzing verlassen. Ein tapferer Mensch, der sich auf seine Weise kämpferisch für die Verwirklichung von Menschenrechten einsetzte, drüben gegen sozialistische Realismen und im Westen folglich auf skurrile Weise gegen das Monopolkapital, und weil das nicht griff, trank er, und zwar mehr, als gut für ihn war. Was die ortsansässige Jugend gestern nicht gehindert hatte, mit ihm loszuziehen.
     
    Es roch noch ein wenig nach dem Rasierwasser des Lyrikers, und seine Koffer standen noch in dem engen Zimmer. Man mußte über sie hinwegsteigen, es waren französische Schalenkoffer, drei Stück, groß, kleiner und noch kleiner, sehr elegant. Keinerlei Reißverschlußtaschen.
     
    Schätzing habe nicht zu ihm ans Bett treten wollen und ihm die Hand reichen, sagte Dr. Kirregaard, er habe nicht stören wollen. Krankenbesuche seien nicht sein Dampfer, er sei ja selbst nicht gesund, habe mit sich selbst zu tun … Aber er wünsche ihm gute Besserung, das habe er ausdrücklich noch hinzugefügt.
    «Er hält große Stücke auf Sie! Wissen Sie das eigentlich?»- Was hieß schon«Stücke»?
     
    Schade, dachte Alexander, aber gut, denn womöglich hat er keine Zeile von mir gelesen. Und er sah ihn mit Phallenberg in einem kleinen Restaurant sitzen und hörte den Mann aus Oregon sagen:«Ja, wissen Sie, mit Sowtschick ist das so eine Sache. Ist der nicht gegen den Fortschritt?»
     
    Alexander war nun sich selbst überlassen. Er sah sich um in dem Zimmerchen und machte sich daran, seine Bagage auszupacken. Sehr eng war es in dem Zimmer. Aber immer noch besser, als im Arbeitszimmer eines übernervösen Kulturbeamten zu lagern oder in dem vergitterten Hotel, in dem es Alexander so schlecht ergangen war. Ein gutes Hotel wäre freilich noch besser gewesen als diese Bude hier.
     
    Er widerstand der Versuchung, die Koffer des Brockes-Preisträgers zu inspizieren. Vielleicht hatte Schätzing inwendig eine Sicherung angebracht, einen mit Wachskügelchen

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