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Letzte Gruesse

Titel: Letzte Gruesse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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um und schob sich vor das Bild. Er setzte die Brille ab und betrachtete es kurzsichtig aus der Nähe. Es war Kokoschka!
     
    Hamburg: Die Kräne hatten damals auf der Seite gelegen, Silos und Schuppen ausgebrannt. Kirchtürme seelenlose Stümpfe. Fleißige Menschen hatten alles wieder in Ordnung gebracht, die Kräne aufgerichtet, die Wracks gehoben. - Sowtschick hatte auf seine Weise zu den Fleißigen gehört. Er hatte den Wiederaufbau mit Zeitungsaufsätzen kritisch und anfeuernd begleitet, oft eifernd, zuweilen aber auch gelassen.
    An das kleine Restaurant im Dammtorbahnhof mußte er denken, wo er immer zu Mittag gegessen hatte. Königsberger Klops und ein Bavaria dazu. Leute vom Funk und Schriftsteller, denen man über die Zeitung hinweg zunicken konnte, damals unbekannt, später dann in aller Munde und nun bereits wieder unbekannt … Sowtschick allein war es gelungen, sich im Gedächtnis der Menschen festzusetzen.
    Die beschränkten Verhältnisse damals hatten auch ihren Reiz gehabt. Und dann hatte er dort ja auch Marianne kennengelernt. Hamburg, in ihrem karierten Faltenrock; nun schon fast vierzig Jahre her! In ihrer Dachkammer auf dem Messingbett gelegen und am Christusdorn vorbei in den blauen Himmel geguckt. Die erste gemeinsame Nacht … Herrgott, war das eine Aufregung gewesen: Zu nichts war es gekommen in dieser Nacht, trotz intensivstem Gerangel! Eine Überempfindlichkeit seiner Leisten hatte ihn gehindert, der Nacht das Ihre zu geben, wie sehr auch darauf gedrängt worden war. Die Wirtin im Korridor auf und ab gegangen und geklopft:«Fräulein Marianne, sind Sie schon auf?»
    Das spezielle Handikap seiner Leisten war ein Kapitel gewesen, das lange Zeit dem ehelichen Tun entgegengestanden hatte. Ein Wunder, daß es schließlich dennoch gelang, Kinder in die Welt zu setzen, die sich nunmehr sogar behaupteten, was nicht zu erwarten gewesen war.
     
    Sowtschick war nicht dafür gebaut, das Leid dieser Welt zu tragen. Er hatte mit sich selbst zu tun und Kurs zu halten, straight ahead, wie er es ausdrückte und manchmal laut in die Gegend rief:«straight ahead!»
    Vielleicht fuhr Marianne dieser Tage wieder einmal nach Hamburg, um im Dammtorbahnhof alten Erinnerungen nachzuhängen? Konnte ja sein. Wahrscheinlich nicht, wahrscheinlich längst alles vergessen.
    Den Deich entlang waren sie geradelt in Lühsenstedt. Vielleicht erinnerte sie sich ja daran, wie sie in eine Schafherde gerieten, und der Schäfer hatte geschimpft!
    Sie hatte zu ihm gestanden in all den Jahren, eisern, das war festzuhalten, und das hatte dann ja auch Früchte getragen. Wofür er ihr bis heute dankbar war. Fast vierzig Jahre lang eisern zu ihm gehalten! Trotz und alledem.
     
    Gegen Mittag nahm sich Dr. Kirregaard die Zeit. Er klappte seine Brille zusammen und rückte den Stahlrohrsessel in die Nähe der Couch, wie der Arzt es getan hatte, linker Hand das Fenster, von dem aus es fünfzig Meter in die wimmelnde Tiefe ging. Er nahm die aneinandergepreßten Handflächen zwischen die zusammengeklemmten Knie und erzählte, wie großartig letzten Abend die Lesung von Adolf Schätzing gewesen war. Ein guter Interpret seiner selbst! Eine Begabung, die nicht jedem Schriftsteller gegeben sei. Professor Phallenberg eigens aus Oregon gekommen, um ihn zu hören, so begeistert! Benn, Celan und Schätzing, das sei eine Linie, habe er gesagt: wie mit dem Lineal gezogen.
    Es sei viel junges Publikum im Saal gewesen, aufgeregte junge Leutchen, hinterher noch sonstwas mit ihm angestellt! Der Büchertisch wär ratzeputz leer gewesen. Er selbst habe für die Hausbibliothek auch noch ein Bändchen gekauft, sagte er und hielt Alexander einen nach Leim riechenden schmalen Gedichtband unter die Nase.
    Er fände diese Art Lyrik eminent wichtig, sagte Kirregaard, man müsse der Gesellschaft den Spiegel vorhalten und die Verkrustungen aufbrechen! Wenn man bedenke, wie Benn hingelangt habe!
    Sowtschick hatte die Gedichte des jungen Autors ganz anders in Erinnerung. An zart ziselierte kostbare Gebilde dachte er, die sich ihm unauslöschlich eingeprägt hatten, obwohl er sie vor Jahren nur kurz und obenhin angesehen hatte. Von Kritik an der Gesellschaft war damals nicht die Rede gewesen.
    Dies hier war ein anderer Ton, was war passiert?
     
    Nun rückte Dr. Kirregaard ein Stück näher, obwohl er bereits recht nahe saß, und preßte die Knie, wie’s irgend ging, noch enger gegeneinander: Ob er Sowtschick mal was fragen dürfe? Ja? Aber nur, wenn er ihm verspreche,

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