Letzte Gruesse
Park spazierengehen, da passiert Ihnen nichts. Aber nicht in der Nacht!»Eine Angestellte des Instituts war schon viermal vergewaltigt worden, weil sie es nicht lassen konnte, per Fahrrad durch den Park zu fahren, abends, nach Büroschluß. Auch deren Schreie waren verhallt.
Ob er Nazi gewesen sei, fragte ihn der Arzt, der verdammt gut Deutsch sprach. Partei oder gar SS? Und er guckte dabei aus dem Fenster über den Central Park hinweg auf die jenseitige Wand der Hochhäuser.
Nein, kein Nazi. Soldat ja, gezwungenermaßen, und russische Gefangenschaft, aber kein Nazi.
Gezwungenermaßen ?, fragte der Arzt und lachte ein häßliches Lachen. Und während er seine Tasche verschloß, stiegen Bilder in ihm auf, die sich auf Alexander übertrugen. Der hatte dieselben Bilder vor Augen.
Wachtürme in der Taiga, Stacheldraht - und andere Wachtürme und anderer Stacheldraht … Bomberpilot war dieser Mann nicht gewesen, gezwungenermaßen war er nach Amerika gegangen. Wär lieber in Heidelberg geblieben …
Vielleicht war er hier in den ersten Jahren ebenfalls gezwungen gewesen, zwischen den Trümmern zusammengebrochener Gebäude frierend an offenen Feuern zu stehen? Fünfundzwanzig Dollar liquidierte er, auch er verweigerte die Schecks, wollte Bares sehen.
An der Abendveranstaltung des Instituts konnte Alexander aus Schwäche nicht teilnehmen, das sahen alle ein. Der Autor Adolf Schätzing, ebenfalls gestern hier eingetroffen, würde aus seinem neuesten Gedichtband lesen.«Reflexionen IV», eiskalte Sachen, die voll provozierender Anspielungen steckten, mit denen die Welt verändert werden sollte, die man zwar nicht recht kapierte, aber trotzdem auf sich bezog und auf eigenes Versagen. Diesem Mann hatte Alexander vor Jahren den Brockes-Preis besorgt, so klein ist die Welt. Ich werd ihm glühende Kohlen aufs Haupt sammeln, hatte Alexander gedacht. Einem ordentlichen Bürger die Krawatte aus der Jacke zu reißen.
Zu der anschließenden Verleihung war der junge Mann dann gar nicht erschienen. Unter alten Säcken macht man sich nicht gemein.
Wie schade, daß ich ihn hier jetzt nicht zu sehen kriege, dachte Alexander, gern hätte er still und unerkannt im Publikum gesessen und sich alles angehört.
Vielleicht würde der Mann hier ja aufkreuzen, nach der Lesung, vom Institutsleiter genötigt, am Fußende des Bettes stehen und ihm zunicken -«wird schon werden»- oder aus dem Fenster gucken, auf die Wand der Hochhäuser gegenüber. Hochhäuser, in denen womöglich auch Lyriker wohnten, Lyriker die schwere Menge, die auch alle täglich Verse machten? Oder Knickprosa fabrizierten zur Verbesserung der Menschheit?
Während Schätzing im Vortragssaal des Instituts seine Gedichte sprach, die so klar waren wie das Wasser in dem Glas, das auf seinem Pult stand, lag Sowtschick auf dem Rücken und betrachtete den Widerschein der Lichter an der Decke des Zimmers. Er dachte nicht an seine eigenen Anfänge, an die ersten Jahre in der kleinen grünen Baracke, den leergepickten Meisenring vorm Fenster, an Marianne, die ihn immer wieder angetrieben … Er zählte die Preise auf, die er immerhin bekommen hatte im Laufe der Jahre, bog die Finger ein, Orden sogar, von denen ihm einer in Bonn verliehen worden war, um den Hals zu tragen, wozu man dann allerdings als Schriftsteller nie die Gelegenheit hatte.
Im Krieg war ihm ein Verdienstkreuz angesteckt worden, zweiter Klasse, ja, das stimmte. Er hatte damals einen Brief von seinem Vater bekommen, der seinerseits im Weltkrieg dekoriert worden war, daß er sich freut und stolz ist …
Er hatte das Schleifchen gezwungenermaßen annehmen müssen, wegschmeißen, das wäre nicht gegangen. Das hatten dann die Russen besorgt.
Alexander versuchte die Seitenzahlen seiner Bücher zu addieren - bei Lyrik käme man nicht so schnell auf ein ansehnliches Volumen. Und während er zählte, lauschte er, ob der junge Kollege nicht doch auf einen Sprung zu ihm heraufkäme. Er wußte nicht, ob er sich das wünschen sollte. Er setzte sich auf und kämmte sich.«Ich bin hier ja regelrecht festgenagelt», sagte er und ließ sich wieder zurückfallen.
Der Barthold-Hinrich-Brockes-Preisträger kam nicht, er nahm keinen Anteil am Schicksal seines Kollegen. Eine Geste wäre es gewesen. Aber gut! - Was hatte man sich denn zu sagen?
Als er schon hinübergedämmert war, riß es ihn plötzlich noch einmal empor: Er hatte vergessen, den Arzt um eine Quittung zu bitten.«Auch das noch!»rief er
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