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Letzte Gruesse

Titel: Letzte Gruesse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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machen können am Krankenlager. Er habe sich nämlich gestern die Seele aus dem Leib gekotzt … Und dann referierte er: Aus Ostberlin gekommen, dort vermutlich in der FdJ und dann in Westberlin mit zwei Frauen zusammengelebt, ein Stipendium nach dem anderen, mit Frauen und Katzen zusammengelebt und den ganzen Tag Leckereien geschmurgelt. Und kleine hübsche Gedichte geschrieben - damals … Jetzt allerdings höchst merkwürdiges Zeug. Einen Preis nach dem anderen, und in allen Schulen gelesen.
    Dieser Mann habe sich esoterisch gebärdet, während er in Sassenholz Vergangenheit aufgearbeitet habe in ziemlich umfangreichen Werken.
    Esoterisch? Wieder verkehrt. Wie er über einen Menschen so reden kann, sei ihr völlig unverständlich. Von Schätzing gehe doch trotz aller Zerbrechlichkeit etwas Kraftvolles aus, bei aller Sensibilität. Habe er das noch nicht mitgekriegt? Und daß er auf Mißstände in Deutschland aufmerksam mache, das sei doch sehr anzuerkennen!
    Ihre Nase zeigte nach links, und die Fingernägel sonderbar und tatzenhaft gekrümmt und etwas unreinlich. - Um sie auf andere Gedanken zu bringen, holte Alexander sein Notizbuch heraus. Ob er ihr mal seine Notizen vorlesen soll? Was ihm hier in New York seit seiner Ankunft alles aufgefallen ist? An Positivem und an Negativem?
    Die junge Frau war nicht sehr scharf darauf, das war zu merken. Sie kaute an ihren Nägeln und fragte, wieso er den Kuchen nicht aufißt. Und als er sich dann anschickte, sie zu fotografieren:«Muß das sein?»
     
    Daß er upgegradet worden sei, im Flugzeug, erzählte er, und von der alten Dame, die er beobachtet habe, wie sie Flaschenkisten aufstapelte, daß die ihn an seine Mutter erinnert hätte in Hamburg, an Krebs zugrunde gegangen. Bei den Angriffen auf die Stadt alles verloren, und der Vater im Hemd auf die Straße gelaufen, glühender flüssiger Phosphor … Dies interessierte Jennifer nicht, und Bomberpiloten, wo man die herkriegen sollte, wußte sie auch nicht. An sich mußten in New York noch genug von der Sorte wohnen.
    Als er dann aber von dem Hafenbild des Institutsleiters sprach, das er dauernd habe ansehen müssen, während er da siech und marode im Geschäftszimmer lag, erwachte sie ein wenig, taute auf und fing an auszupacken, was für ein Heini dieser Mann sei, und von dieser Art Schinken habe er drei Stück im Institut hängen.
     
    Sie machte einen abwesenden Eindruck, als er sie noch einmal fragte, ob er ihr die Notizen vorlesen soll, die er in den letzten Tagen gemacht habe. Leicht gequält sah sie immer wieder auf die Uhr. Er hatte das Heft schon in der Hand, den Finger zwischen den Seiten.
    Wie das Buch heiße, an dem er jetzt arbeite? Das wollte sie wissen.
    «Karneval über Lethe.»
    Darüber brauche man doch kein Buch zu schreiben, das sei doch sonnenklar. Über die Reise wolle er natürlich auch was schreiben:«Unruhig in unruhiger Zeit», ein Reisebuch …
    Merkwürdiger Titel. Ein Reisebuch? Das sei nicht sehr originell. Ob er denn nie ein Gedicht geschrieben habe? Sei er denn gar nicht musikalisch?
     
    Sowtschick hätte das«Äolen»-Buch herausziehen können und ihr daraus vorlesen, aber das ging ihm gegen den Strich. Sollte er denn hier ein Examen ablegen? Ihm reichte es. Eine Erinnerung an inquisitorische Fragen kam ihm, die er Studenten und Schülern immer und immer wieder hatte beantworten müssen: Warum schreiben Sie? Was wollen Sie mit ihren Büchern erreichen?
     
    Den Kollegen Schätzing belästigte man mit so was wohl nicht. Da mochten es eher ältere Herren sein, die ihn zur Rede stellten, hochrot und ungeschickt, sich verheddernd, weil sie keine Übung hatten im Diskutieren.
    Und«musikalisch»? Es hatte keinen Sinn, hier von der Jagdsonate zu schwärmen und sie womöglich vorzupfeifen. Er hätte jetzt gern zu Hause gesessen und Klavier gespielt, und er hatte auf einmal starke Sehnsucht nach Marianne, die ihm um diese Zeit ein Glas Ingwermilch zu bringen pflegte und kleine liebe Zettel schrieb und ihm aufs Bett legte. Warum hatte er sich auf diese Tour eingelassen? Den langen Weg zu machen, um hier beschimpft zu werden?
    «Deutsche Wochen»? Das war doch eigentlich ganz anders gemeint?
    Wie Schätzing eine so lange Tour hinter sich bringen würde, so hinfällig und sensibel?, fragte sie sich. Der wisse wahrscheinlich gar nicht, was auf ihn zukommt. Er hätte gestern so einsam auf der Bühne gesessen, das Publikum sei mucksmäuschenstill gewesen. Zuerst ganz zarte Sachen gelesen, zum Teil auf

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