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Letzte Gruesse

Titel: Letzte Gruesse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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englisch und zum Schluß dann fast geschrien! Ein Autor müsse auch in seinem Vortrag über Dynamik verfügen, er müsse registrieren können, das sei ihr dabei klargeworden. Und hinterher habe er dann russische Lyrik aus dem Kopf rezitiert! Auf russisch! Aber weshalb ein Mensch so viel Alkohol trinken müsse, das sei ihr schleierhaft. Na, wahrscheinlich habe er Schlimmes erlebt.
     
    Bevor sie das Lokal verließen, erkundigte sich Jennifer noch bei der Bedienung, was das für Musik sei, von wem? - Soso, also Bach. Hm.
     
    Sie schlenderten durch die Straßen. Wenn Alexander in ein Schaufenster guckte, ging sie ein Stück weiter und wartete. Was es da zu gucken gab, war ihr unverständlich. Er hätte für Marianne als Mitbringsel gern einen Doorknocker gekauft, aber ein Laden für Doorknocker war nicht zu finden. Dafür aber ein Weihnachtsbaumgeschäft. Der ganze Laden stand - jetzt im Oktober! - voll Plastikbäume mit Plastiklebkuchen dran und mit Gipsschnee dekoriert.
    «Na, hallelujah!»sagte Sowtschick.
    «Wir holzen eben nicht unsere Wälder ab …»
    Und als er auf zerlumpte Menschen zeigte, die in leeren Pappkartons unter einer Straßenbrücke hausten, sagte sie, das seien Geisteskranke, die man aus den Anstalten entlassen habe, weil sie unter Menschen sollen und nicht isoliert leben, wie das in Europa der Fall ist, oder womöglich vergast, wie die Nazis es getan haben. Es sei erstaunlich, wie schnell sie sich ans Leben hier draußen gewöhnten …
     
    Sowtschick sah voraus, daß ihm irgendwann der Kragen platzen würde. Schließlich war er nicht nach New York gekommen, um sich politischen Unterricht erteilen zu lassen. Er hatte ebenfalls Schlimmes erlebt, und er war trotzdem nicht zum Säufer geworden. Und die Masche kannte er, auf der Bühne zu sitzen und einsam zu wirken. Das kriegte er auch hin, wenn es sein mußte.
     
    Das Empire State Building mit ihm hinaufzufahren, weigerte sich Jennifer. Aber das World Trade Center, das war nicht zu umgehen. Sie flitzten mit dem Lift hinauf. Da oben standen Touristen und fotografierten in die Straßenabgründe hinein, und zwischen ihnen jagten lärmende Schulkinder.
    Sie standen einen Augenblick und guckten in die Tiefe.
    Es müßten noch mehr dieser Zwillingstürme hier stehen, dachte Alexander, wieso nur zwei? Hunderte! Einer neben dem andern, und die müßten sich im Wind wiegen wie ein Getreidefeld …
     
    Das wär’s eigentlich gewesen. Auf der Suche nach einem Taxi trotteten sie noch etwas durch die Straßen.
    Er soll die Leute nicht so anstarren, sagte sie, das sei hier nicht üblich. Und seine Krawatte sei zu«continental». Sie schlug vor, eine neue zu kaufen, und das taten sie dann auch. Sie zog ihm den Schlips aus dem Kragen, wie man Kinder zurechtzupft, und zog ihm einen neuen ein. Dabei trafen sich im Spiegel ihre Blicke. Sie zeigte ihm die Zunge; und das war eigentlich ganz originell.
    Wo hab ich denn meinen Blindenstock, dachte er, als sie den Laden verließen.
     
    Auf der Straße wurde es ihm dann unversehens wieder mal«komisch», das Laub, das die Häuser hinaufflog, der gleichmäßige Strom der Autos, es war ihm komisch oder, besser,«unwirklich»zumute, und Jennifer merkte das auch sofort. Sie faßte ihn unter und setzte ihn auf den mit Blech beschlagenen Sims eines Schaufensters, die Passanten musterten ihn. Wahrscheinlich bin ich leichenblaß, dachte Alexander.
    Von drinnen kam ein Verkäufer mit einem Glas Wasser. Der legte ihm die Hand auf die Schulter und fragte, ob es ihm schon besser ginge? - Das wäre ihm in Eppendorf nicht passiert, da hätten die Leute ihn ruhig sitzen lassen.
    Alexander hätte gern längere Zeit so dagesessen, und er saß auch lange hier, am Arm der jungen Frau, die neben ihm Platz genommen hatte. Als ob Kraft herüberströmte zu ihm, so kam es ihm vor. Er nippte am Wasser und dachte: Hier rührst du dich erst mal nicht von der Stelle. Daß man in Deutschland lange hätte warten können, bis einem jemand ein Glas Wasser holt, wollte er sagen, aber er ließ es, das kam ihm denn doch zu liebedienerisch vor.
     
    «Hat er auch aus den ‹Definitionen› gelesen?»fragte er sie. Und sie war überrascht:«Die kennen Sie?»- Ja, er kannte die kleinen kostbar schönen Vierzeiler, die Schätzing in Gesellschaft von sechs Katzen und zwei Frauen, zwischen Küche und Bett verfaßt hatte. Das war anders, als das, was sonst so auf dem Markt war. Zum Teil war es von der Art, wie Alexander es selbst gedichtet hätte, wenn er

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