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Letzte Gruesse

Titel: Letzte Gruesse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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seinen Texten, heiße es, mit Rechenschieber und Zirkel, eine Zeile pro Tag sei da schon viel.«Kennen Sie ihn?»
    Jaja, Alexander kannte ihn, bei der Brockes-Preis-Entscheidung habe er ein gewichtiges Wort mitgeredet - nun auch schon wieder Jahre her. Ein ziemlich haariger Geselle, dachte er, mit wallendem Haar und Bart.
    «Bart?»fragte die Frau, ihres Wissens sei er glattrasiert … Alexander lobte die«Definitionen I». Aber im zweiten Band, den«Definitionen II», habe der Mann das Niveau nicht halten können … Und er erzählte, daß Schätzing in Berlin, unweit des KaDeWe mit zwei Frauen, mit Hunden und Katzen zusammen hause und ihn, expressis verbis, für einen alten Sack halte.
     
    Schließlich näherten sie sich dem Amish-Territorium, und da ließ sich auch schon ein erster Gottesmensch sehen, mit Hut und Bart. Am Straßenrand stand er, und er beschnitt Bäume.«Sehen Sie!»rief der Professor.«Das ist schon so einer …»Gleich ein bißchen langsamer fahren, aber besser nicht, sonst fühlt der sich beobachtet.
    Wie kam es, daß Alexander in diesem Augenblick an die jüdischen Streckenarbeiter im Osten dachte? Bei eisigem Wind mit nichts im Leib die Gleise repariert.
     
    Sie fuhren durch die Amish-Dörfer, klein, fein und sauber, und dem Gast aus Deutschland wurde alles erklärt, auch das, was er sowieso sah. Die Höfe extrem aufgeräumt: Da lag nichts herum, und keine Zaunlatte fehlte. Manchmal huschte jemand über die Straße, oder es klappte eine Tür, und hinter manch einer Gardine regte sich was, ansonsten ließ sich niemand blicken … An Sonntagen sei es hier unerträglich, da kämen die Touristen von weither, Stoßstange an Stoßstange schöben sie sich durch die Dörfer. Für die Fremden seien die Amish-Dörfer Menschen-Tierparks; die lachten sich tot über das«rückständige»Leben.
     
    Ein Bauer in schwarzem Anzug fuhr auf einem leichten Pferdewagen vorüber, große, schmale Räder, für das kräftige Pferd ein Kinderspiel. Der Mann sah mit seinem breitkrempigen Hut und dem langen Bart ein bißchen so aus wie ein orthodoxer Jude, der machte, daß er weiterkam.
     
    Dann hielten sie an der Dorfschule. Vor der Tür stand eine Reihe Schnürstiefel, ein Paar neben dem andern. Sie waren angemeldet, und sie wurden ohne weiteres hineingeführt in den Klassenraum. Die Kinder sahen sich nicht um nach den Fremden, sie drehten den Besuchern den Rücken zu. Wie kleine Erwachsene waren sie gekleidet, Fritz von Uhde, die Jungen wie ihre Väter ganz in Schwarz, die Mädchen wie die Mütter in langen Kleidern, eine Haube auf dem Kopf. Ab und zu sah sich eben doch eins verstohlen nach den Fremden um.
    Die Lehrerin veranstaltete gerade eine Gesangversprüfung:«Lobet den Herren, den mächtigen König der Ehren.»Die Buben und Mädchen wurden in altertümlichem Hochdeutsch streng befragt, und wer seinen Vers nicht konnte, mußte sich in die Ecke stellen.«… kommet zuhauf, Psalter und Harfe wacht auf …»In dieser Schule wurde bestimmt auch geprügelt, das war anzunehmen. Es sah ganz danach aus.
     
    Alexander sprach ein paar Worte, daß er sich freut, so etwas mal geboten zu bekommen, so nette Buben und Mädels zu sehen … und er wär auch mal Kind gewesen … Sein Hochdeutsch, Norddeutsch rein, wirkte hier wie eine Art Kirchenlatein.
    Sommer will uns wieder bringen
grünen Wald und Vogelsingen,
Anger trägt ein Blütenkleid …
    Hätte doch sein können, daß sie hier noch wußten, wie es weitergeht. Über dreihundert Jahre getreulich bewahrt und nun zurückgegeben einem Land, in dem das alles vergessen wird?
     
    Die beiden Herren störten, das war zu merken, nicht so sehr, aber die Frau mit ihrem kurzen schwarzen Haar, und deshalb machten sie sich bald fort.
    Sie setzten sich in eine Gaststube und aßen eine Suppe, die in Kummen serviert wurde. Der Professor erzählte von seiner kummervollen Schulzeit, wie schrecklich das gewesen sei und wie schön es heute die Kinder haben, freiweg und ungehemmt.
     
    Auch Alexander hätte einiges erzählen können, aber er war nicht nach Amerika gekommen, um Schulgeschichten von sich zu geben. Er war froh, daß er das alles hinter sich hatte, daß er bald alles hinter sich haben würde.
    Er frage sich, ob er sich nicht einen Amish-Hut kauft, sagte er, und für Marianne eine Haube. Für Kostümfeste? Wär doch keine schlechte Idee?
    Das fand der Professor anstößig.
    Aber irgend etwas wollte Alexander mitnehmen, gab es denn hier keinen Andenkenladen?
    Sie wurden von

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