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Letzte Gruesse

Titel: Letzte Gruesse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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entreißen. Linker Hand sah er in den Park der Universität. Der Wachmann schien hier andere Gäste zu suchen. Der Strahl der Taschenlampe glitt von Baum zu Baum.
     
    Alexander strich die Gänge entlang - alle Türen verschlossen! Kein Lichtschalter zu finden und keinerlei WC.
    Im Vorwärtstasten stürzte er dann die Treppe hinunter, nicht gerade wie ein Stuntman, aber doch wie Wasser von Klippe zu Klippe. Siehe, da weinen die Götter …
    Unten angekommen, blieb Alexander Sowtschick erst einmal liegen. Hebbel-Preisträger, Träger des Keyserling-Ringes, Freund der Jugend und des Schönen. Es dauerte eine Zeit, bis er wieder zu sich kam.
    Verletzt hatte er sich nicht, aber er war benommen, und er wußte nicht so recht, was ihm geschehen war. Hatte Fahlhelle gezuckt? Oder Schlachtruf gegellt? Er war die Treppe hinuntergestürzt, das war nicht zu bestreiten, aber wie es dazu gekommen war, blieb unklar.
     
    Er blieb also liegen. Der Fußboden war warm, und es roch angenehm nach Reinigungsmittel. Hier liege ich gut und trocken, sagte er sich, und er überlegte, wem er von diesem Erlebnis erzählen könnte. Kein Mensch auf der Welt, der sich dafür interessieren würde, und doch würde er es dem ersten besten berichten.
    «Hattest du dir denn weh getan?»würde Marianne fragen.«Hättest du nicht einfach aufstehen können?»
    Nein, er hatte sich nichts getan. Beide Oberschenkelhalsknochen waren intakt.
    Weil es ihm so einfiel, kroch er die Treppen auf allen vieren wieder hinauf.
     
    Endlich hatte er sein Zimmer erreicht, aber die Toilette, das Klo, der Abtritt! Das Dabbeljußi! Ein zweites Mal die Irrfahrt wagen, weitere Treppen eine nach der andern hinunterstürzen? Nein. Also auf die Fensterbank klettern, Fenster öffnen und hinauspinkeln in den mittelalterlichen Hof, und schön festhalten dabei! Das war die Lösung, die sich anbot.
    «My name is Alexander Sowtschick and I am forced to do that out of the window.»
     
    Auf dem Bett lag er dann, zugedeckt mit seiner Mehrzweckjacke. Irgend etwas Angenehmes war noch zu bedenken. Gotische Kathedralen reckten sich bereits gen Himmel … ja,«Harvest on Sea», das war es. Schätzing hatte den Titel seines Buches notiert und mit einem Fragezeichen versehen. Warum wohl? Das ganze Buch mal durchlesen und erforschen, warum es den jungen Herrn zu Fragezeichen und Pfeil provoziert hatte? Vielleicht war es das Meeresleuchten, das eine gewisse Rolle spielte in dem Buch?
    Allerhand Überflüssiges stand in seinem Notizbuch, das sah er jetzt: Wie gut, daß man es ihm nicht aus der Hand gerissen hatte.
     
    Dann fiel es ihm ein: Die Archivarin hatte ihm doch was geben wollen. Sie hatte doch gesagt, sie habe was für ihn. Hatte er sich verhört? Hatte es sie gereut? Was war es, das die Archivarin dir zeigen wollte?, dachte er. War es eine Finte gewesen, endlich mal wieder einen Mann ins Bett zu kriegen? Aber dann fand er in der Innentasche seines Sakkos einen Briefumschlag: Er enthielt eine Fotokopie von Goethes Wäscheliste.
    Daraus könnte ich ihr einen Strick drehen, dachte er, denn das Kopieren so kostbarer Papiere ist gewiß verboten. Die Schrift würde an Deutlichkeit einbüßen, wenn man es öfter täte. Wenn Sie mir kein Spiegelei angeboten hätte, dann hätte ich ihr jetzt einen Strick gedreht, dachte er.
     
    Der Nagel seines Daumens war eingerissen, das war ihm beim Treppensturz passiert. Er tastete nach der Nagelfeile im Necessaire. Aber, du lieber Himmel, die lag in dem geblümten Dings von Marianne, das er in New York weggeworfen hatte.

19
    In Washington sollte er im Zuge der«Deutschen Wochen»als ein Repräsentant der deutschen Literatur auftreten und nebenbei etwas für die Deutsche Schule tun, also deutschen Schülern begegnen. Das hatte sich die Botschaft so ausgedacht, vormittags den Kleinen etwas darbieten und nachmittags den Großen. Er sollte den Schülern also etwas vorlesen aus seinem ausgebreiteten Werk und mit ihnen diskutieren, das heißt: Rede und Antwort stehen.
    Als ob ich vor den Kadi müßte, dachte Alexander. Hab ich denn was verbrochen?
    Abends sich dann einem internationalen Publikum stellen: das falsche Bild von Deutschland, das die Menschheit vielleicht noch immer in ihrem Herzen trägt, zurechtrücken und ins Strahlende wenden.
    Es war ja nicht so, daß man zu einem Banausenvolk gehörte, man hatte schließlich was vorzuweisen. Aus vergangenen Jahrhunderten sowieso! Den Menschen in Amerika, jung und alt, sollte ein Bewußtsein von deutscher

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