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Letzte Gruesse

Titel: Letzte Gruesse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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Schuppen. Auf den Ellbogen trug er gar Lederflecken in Form von Herzchen! Alexander hätte eine Dose Niveacreme aus der Tasche ziehen mögen und ihm die trockne Stirn eincremen, mit einer Bürste den Kragen abbürsten und die überstehenden Nackenhaare abschneiden. Armer Kerl … Geschichte studiert und Deutsch. Und was hatte er davon? Aufsätze korrigieren, Tag für Tag. - Aber immerhin: Washington. Das würde sich irgendwann auszahlen. Wenn er eines Tages nach Wuppertal zurückginge, würde er sagen können: Ich war zehn Jahre in Amerika. Aber vielleicht würde ihm das dort ja auch angekreidet. Wer konnte das wissen? Vor die Konferenz zitiert und gefragt werden, ob er für den Monopolkapitalismus ist.
     
    Wenn Marianne nicht zur Stelle gewesen wäre mit ihren Ermutigungen Tag und Nacht, hätte ihm das auch blühen können: Aufsätze korrigieren. Ob er dafür jahrelang in Gefangenschaft gewesen wäre, um am Ende Tag für Tag Aufsätze zu korrigieren? Lehrer? Und sie hatte aus ihm herausgezerrt, was dann später zu ihrem Segen wurde: aus kleinen, bescheidenen Anfängen, Glossen und Gedichtchen, hatte sie das Feuer angeblasen, was dann dazu führte, daß man sich schließlich ein Haus mit Schwimmgang leisten konnte, das sogar in der Zeitschrift Form abgebildet war. Und Belutsch-Teppiche die schwere Menge.
     
    Als Alexander vor die Kinder hintrat, applaudierten sie auf übertriebene Weise. Man hatte ihnen gesagt: tüchtig klatschen! Und das taten sie nun, und sie hörten gar nicht wieder auf! Schließlich kamen sie zur Ruhe. Sie saßen auf den teppichbelegten Stufen der Pausenhalle, lieb und nett, eines neben dem anderen, und hörten ihm zu. Auch drei schwarze darunter, das waren vielleicht dieselben, die auf dem Plakat der Deutschen Schule zusammen mit weißen, gelb und rot geschminkten sich zu einem Herz formierten?
    Alexander las ein paar Geschichten aus«Der Ruppsack im Gespensterwald», einem Geschichtenbuch, das er mal an einem Wochenende für seine Kinder geschrieben hatte. Hessenberg hatte gesagt: Das müssen wir unbedingt bringen! Er hatte es hübsch illustrieren lassen, und dann wurden davon prompt zehntausend Stück verkauft, das hatte man nicht gedacht! Als äußerst langlebig hatte sich das kleine Buch erwiesen, diverse Taschenbuchausgaben und Sondersachen zu Weihnachten und zum Jahr des Kindes. Es gab Leserinnen, die es ihm bestätigten:«Wissen Sie, Herr Sowtschick, der ‹Ruppsack› ist doch immer noch Ihr bestes Buch. Wenn ich mal so richtig down bin, zieh ich mir das rein.»
     
    «Der Ruppsack im Gespensterwald». Still lauschten ihm die Kinder. Alexander beherrschte jenen Onkelton, mit dem man es erreicht, daß Kinder einem zuhören. Kulleraugen machen und im Onkelton reden, so sonor es irgend geht …
    Er las, die Kinder hörten zu, und es fiel nicht weiter auf, daß immer wieder Fahrschüler durch die Halle lärmten. Auch Legasthenie falle heute aus, wurde über den Lautsprecher in Sowtschicks Heiterkeiten hinein bekannt gegeben, und:«Die Sportsachen vom Flur nehmen!»hieß es, das sei schon hundertmal gesagt worden.
    Der Pausengong kam zur Unzeit. Ein Teil der Kinder rannte begeistert fort, wurde gestoppt und setzte sich dann begeistert wieder hin. Vom«Ruppsack»existierte schließlich noch ein zweiter Teil.
     
    Am Schluß riß ein Mädchen die Augen auf, die hatte die Geschichten vom Ruppsack zu wörtlich genommen: Daß dem armen Kerl die Brombeeren gestohlen wurden, rührte sie zu Tränen!
    Die Direktorin, die eigentlich gar nicht da war, kam herbei und fragte, ob er das verantworten kann, daß Kinder seine Geschichten so wörtlich nehmen? Ob er sich überhaupt schon mal klargemacht hat, was er damit anrichtet?
    Statt eines soliden Mittagessens mußte er sich in der Aula die Theaterprobe der älteren Schüler ansehen, er sollte sie begutachten. Sowtschick setzte sich nach Art eines Regisseurs, die Jacke über die Schultern gelegt, ins Gestühl und lutschte an seinem Brillenbügel.
    Szenen wurden geprobt aus einem Stück, das«Nachtschicht»hieß. Ein Bitterfelder Arbeiter hatte damit einen Preis gewonnen. Deutsche Wochen? Auch die DDR gehörte schließlich irgendwie dazu.
    Nachtschicht: Von Arbeitern handelte das Stück, die einen Eisenträger anstreichen sollen, aber nicht recht wissen, wie der Pinsel gehalten werden muß. Das bringt ihnen dann im dritten Akt eine Kaderfrau bei, von der die Arbeiter vorher gedacht hatten: Die ist plemplem.
    Alexander rutschte immer tiefer in den Sessel

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