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Letzte Gruesse

Titel: Letzte Gruesse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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mit«George»und«John»anredeten. Beide waren Mediävisten. Lauthals unterhielten sie sich über das«schweigende Jahrhundert». Alexanders Eindrücke vom Raketenzentrum interessierten nicht. Mondgestein? Was für Mondgestein?
    Vielleicht nahmen die Herren ihn ja auch akustisch nicht wahr? Daß sie nichts von ihm gelesen hatten, war schließlich zu verstehen.
    Mit altdeutscher Literatur kannte Alexander sich nicht aus. Aber für das«schweigende Jahrhundert»der deutschen Dichtung, aus dem nicht eine einzige Zeile überliefert war, hätte er sich schon interessiert.
     
    Die beiden Gattinnen saßen ihm gegenüber, erheblich ins Gespräch vertieft. Hatten die sich denn lange nicht gesehen? Neben ihm eine Institutsdame, ein dezentes Frauchen. Während Alexander die schmackhafte Sklavennahrung zu sich nahm, erzählte sie ihm von einer Ohrspülung.«Sie können sich nicht vorstellen, was da alles rausgekommen ist!»Vorher schon immer so quietschig angefühlt …
    «Ihre Texte gehen mir ein wie Honigseim», sagte sie, schade, daß ihre Kinder kein Deutsch mehr könnten. - Kinder? War sie denn schon älter?
    Ihre Meinung über Sowtschicks Bücher konnte sie klar formulieren. Sie seien zwar nicht so modern, aber das schaffe ihnen eine gewisse Zeitlosigkeit. Bei Schätzing sei es irgendwie umgekehrt. Der könne drauf warten, daß er als überholt beiseite gelegt werde.
    Das gefiel Alexander, und er stimmte zu.
    Von Frau von Rutenigk berichtete die Dame ungefragt allerhand Verworfenes.«Hat sie Sie auch zum Abendessen eingeladen?»
     
    Es wurde kalifornischer Wein getrunken, und der stieg Alexander in den Kopf. Das führte dazu, daß er die Runde mit Beispielen über seine Dummheit unterhielt, worüber alle herzlich lachten. Es sei sagenhaft, wie dumm er ist! Neulich morgens ungekämmt in den Frühstücksraum hinuntergestiegen. Der Kellner gesagt:«Mein Herr …»- Oder auch mal zwei verschiedene Socken angezogen, wie oft ihm das schon passiert ist.
    Alle lachten sehr darüber, die konnten gar nicht verstehen, daß ein Mensch so dumm ist. Aber die Institutsangestellte stoppte das, ihr sei auch schon mal alles mögliche passiert. Sie nahm Alexander ein Haar von der Jacke und klappte ihm den Kragen herunter, der sich aufgestellt hatte.
    «Weißt du was, Lotte?»würde«George»im Bett zu seiner Frau sagen,«Humor hat er, das steht fest.»Über Schätzing hätte es wahrscheinlich geheißen:«Klug ist er, aber Humor hat er keinen.»
     
    In der Nacht versuchte Alexander, Marianne zu erreichen, aber das Zimmertelefon war wegen der weitgereisten Gäste, die von hier aus sonstwohin telefoniert und nicht bezahlt hatten, abgestellt worden. Er ging also hinunter ins Foyer. Da hing ein Münzfernsprecher, und er nahm den Hörer ab. Eine weibliche Stimme forderte ihn auf, Münzen einzustecken, und nachdem er das getan hatte, kamen sie alle wieder heraus. Das seien acht Dollar gewesen, sagte die Stimme, und nun solle er sie wieder hineinstecken.
    In Sassenholz nahm niemand ab. Gern hätte Alexander seiner Frau von Schätzing erzählt, der den Leuten was vorzauberte, um sie auf seine Seite zu ziehen.
    Aber es nahm niemand ab, so lange Alexander es auch läuten ließ. Vielleicht saß Marianne beim Pfarrer und berechnete, wieviel Schnitten sie für die dänische Jugend streichen müßten jeden Tag. Die Hunde bellten jetzt gewiß, wo doch das Klingeln kein Ende nahm.
    Nachdem Alexander eingehängt hatte, hielt er die Hand auf, wegen der Münzen, die wieder hätten herauskommen müssen, aber da blieb alles still und stumm.
    Wegen der grandiosen Aussicht auf die flimmernde Silhouette der Stadt setzte er sich auf das Fensterbrett. Ob man von hier aus eine aufgestellte Saturnrakete hätte sehen können?
    Sterne waren nicht zu erkennen, die wurden überstrahlt von den vielen Lichtern, aber der Mond, ganz ohne Zipfelmütze und Pfeife.
    Daß vom Mond aus die erleuchteten Städte auszumachen seien, war gesagt worden.
     
    Alexander hob sich vor dem Fenster deutlich ab. Ein Scharfschütze von gegenüber hätte leichtes Spiel gehabt.

21
    Dann stand Orlando auf dem Programm, in Florida, hundertsiebenunddreißigtausend Einwohner.
    Orlando = Roland. Warum habe ich nie das Rolandslied gelesen, dachte Alexander. Und warum werde ich das auch künftig nicht tun? Was geht einem ab, wenn man’s nicht tut?
    Sich mit einem schweigenden Jahrhundert zu befassen, aus dem keine einzige Silbe überliefert ist, hatte keinen Sinn. Aber das Rolandslied, das gab es

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