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Letzte Gruesse

Titel: Letzte Gruesse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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vielleicht absichtlich irgendwas zurückgelassen, dachte Alexander, geheimnisvolle, nicht zu entschlüsselnde Notizen?
     
    Er ging noch einmal ins Bad und betrachtete die Überreste seines Vorgängers wie die Pythia das Orakel. Schlüsse waren daraus nicht zu ziehen.
     
    Am Nachmittag holte Frau von Rutenigk ihn ab, es mußte eingekauft werden: Brot, Butter, Applejelly. Sie wählte aus, und er tat alles in eine große braune Papiertüte. Westfälische Wurst möchte sie mal wieder essen, sagte Frau von Rutenigk. Als Kind mit dem Großvater auf den Räucherboden gestiegen und die Würste mit einer Stange vom Balken abgehakt.
    Oder mal richtiges Schwarzbrot.
    Pflaumenmus!
     
    Am Eingang des Supermarkts stand eine ältere Frau, die Würstchen feilbot, eine neue Art von Würstchen, wie sie sagte.
    «Sie sieht aus wie eine Deutsche», sagte Alexander,«wahrscheinlich stammt sie aus Hamburg.»Aber das war ein Irrtum. Es handelte sich um eine Ungarin, 1956 aus ihrem Heimatland geflüchtet, zu fünft durch einen Eisenbahntunnel nach Österreich gekrochen. - Es gebe hier viele Ungarn, sagte sie, die hingen jetzt alle am Radio, weil’s da drüben am Rutschen ist, aber ob sie zurückkehren würden in die Heimat, wenn’s wieder geht, das sei fraglich. Mit dem Würstchenverkauf komme sie ganz gut über die Runden.
     
    In Ungarn gab es Veränderungen? Nun, wie auch immer. Noch saßen die Kommunisten fest im Sattel. Auch in Prag regierten sie nach wie vor, und sie ließen nicht locker, auch wenn sich dort in der Deutschen Botschaft Flüchtlinge stauten. - Und in Berlin? In Berlin marschierten sie Fähnchen schwenkend an der Tribüne vorüber.
    Wieso die Menschen nicht zu Hause blieben, war Frau von Rutenigk, die seit sieben Jahren in Houston wohnte, schleierhaft. Alle wollten in den Westen! In der DDR lebe es sich doch gewiß besser als in der Bundesrepublik. Keine Arbeitslosen, und die Krankenversorgung kostenlos, Theater und Konzert spottbillig. Und diese wunderbaren Schallplatten … Vorletztes Jahr sei sie in Ostberlin gewesen und habe einen Koffer Schallplatten rausgeschleppt.
    Ob Ost oder West, sie würde nie wieder nach Deutschland zurückgehen, sagte sie. Deutschland? Das fehlte noch! Auf gar keinen Fall.«Da spucken sie sich doch alle gegenseitig in die Suppe.»
    Ihre Schwiegereltern hatten in Schlesien ein Gut gehabt, geflüchtet und so weiter.
     
    In der Spielzeugabteilung des Supermarkts ließ Alexander sich Zauberkästen zeigen, made in Italy. Geldscheine in eine präparierte Brieftasche legen, zuklappen, und wenn man sie wieder öffnet, sind sie verschwunden!
    Alles schön und gut, aber Pingpongbälle den Zuhörern aus der Nase ziehen? So weit würde man es niemals bringen.
     
    Auf seinem Zimmer - endlich allein! - briet sich Alexander zwei Eier. Die Einladung der Frau von Rutenigk zum Abendessen, nur zögernd vorgebracht, lehnte er ab.
    Das Bad war inzwischen geputzt worden, und auf dem Bett lag ein Wäschepaket:«To Adolf Schatzing»stand da drauf. Alexander konnte nicht widerstehen, er löste vorsichtig den Klebeverschluß des Pakets und sah sich die wundervollen Hemden seines Konkurrenten an. Van Laack … So schöne Hemden! Konnte der sich das leisten?
    Auf den Unterhosen stand«BRAVOUR».
    Woher hatte der Mann das Geld für so teure Sachen? Konnte man denn von Gedichten leben, schwerverständlichen oder gar völlig irren? Wenn alle Lyriker selbst auch Lyrik kauften …, dann vielleicht. Aber das taten sie eben nicht.
    In dem Paket lagen auch Mullbinden, sauber aufgerollt. Rätsel über Rätsel …
    Alexander schrieb auf einen Zettel:«Schöne Grüße, Herr Kollege! Werde ich Sie irgendwann einholen?»und legte ihn oben auf Schätzings edle Hemden.
    Er trug Unterhosen Marke«BOSS».
     
    Während er die Eier aß, eine Flasche Bier neben sich, besah er sich im Spiegel. Ging von seinen Augen nicht auch was Fiebriges aus? Grau und kühl waren sie, wenn auch die Augenbrauen an den Enden hochstanden.
     
    Dry toast with butter. - Am nächsten Morgen holte ihn ein junger deutscher Ingenieur ab, das Raketenzentrum besichtigen. Neben der Zufahrtsstraße lag eine ausgemusterte Rakete im Gebüsch,«riesenhaft»war gar kein Ausdruck, aber doch auch klein irgendwie. Kaum zu denken, daß sich damit Leute ins All hatten schießen lassen.
    An der Rakete stand ein Mann und schiffte freihändig gegen sie an. Das war wohl ein Friedensfreund oder einer, der seinen Job verloren hatte. Auch eine Form, seine Meinung zu sagen,

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