Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Letzte Haut - Roman

Letzte Haut - Roman

Titel: Letzte Haut - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthes und Seitz Verlag GmbH
Vom Netzwerk:
Verfahren kommt!“
    „Das wird es! Es wird zu einem Verfahren kommen, Sie kennen mich noch nicht gut“, sagte Schmelz und übergab Tarnat die Überstellungspapiere, die alle ordnungsgemäß von ihm selbst ausgefüllt und unterschrieben worden waren.
    „Gehen Sie jetzt mit ihm, und seien Sie heute nachmittag wieder da, ich brauche Sie hier, Tarnat!“, sagte Schmelz und schlug dem Häftling zum Abschied auf die Schulter: „Und auf Sie verlasse ich mich jetzt einfach mal, auch wenn es mir nicht leicht fällt.“
    „Ich stehe zu Ihnen“, sagte der Insasse: „Und wenn es das Letzte ist, was ich tue, ich werde auf Ihrer Seite kämpfen, von nun an, und notfalls werde ich die ganze Welt auf Ihren Kampf aufmerksam machen, Doktor Kurt Schmelz!“
    Und während Tarnat mit dem Hauptbelastungszeugen das Konzentrationslager Buchenwald verließ, im Dienstwagen von Kurt Schmelz und mit dessen Fahrer am Steuer, begannen an diesem dritten Dezember dreiundvierzig in Italien die erbitterten Kämpfe um Monte Cassino und sank am sechsundzwanzigsten des Monats die Scharnhorst im Eismeer nördlich von Norwegen. Von den tausendsechshundert Männern der Besatzung konnten lediglich sechsunddreißig gerettet werden. Am gleichen Tag stritten sich der amerikanische Präsident Roosevelt und der englische Premierminister Churchill im sonnigen Kairo erbittert über die Frage, wer zuerst bekämpft werden solle, Japan oder Deutschland. Die Amerikaner hatten Angst vor einer japanischen Eroberung ganz Chinas und Indiens, die Briten hingegen wollten das Prinzip ‚Deutschland zuerst‘ durchsetzen, und schließlich gelang es Churchill mithilfe von Zigarrenrauch und viel Whisky, den Präsidenten zu überzeugen.
    Seit sich im Juli dreiundvierzig der Angriffskrieg in einen Verteidigungskrieg gewandelt hatte, weil die Alliierten sich absprachen und die Wehrmacht nur noch improvisieren konnte, hatte Kurt Schmelz aufgehört, sich für kursierende Gerüchte zu interessieren. Schon im August dreiundvierzig hatten die Deutschen Charkow räumen und das Industriegebiet im Donezbecken aufgeben müssen, um das auch Sturmmann Schmelz einst gekämpft hatte. Sabotage in Dänemark, Häftlingsrevolten im Konzentrationslager Treblinka und Sobibor, Mord an Kriegsgefangenen und Juden für wissenschaftliche Forschungen, Italien kapitulierte am dritten September, Anfang Oktober die Herbstoffensive der Roten Armee auf der Linie Schwarzes Meer – Witebsk, Italien erklärte Deutschland am dreizehnten Oktober den Krieg, der japanische Kaiser bezeichnete die Lage als wirklich ernst, und mittlerweile wurden schwere nächtliche Angriffe aus der Luft auf deutsche Industrieanlagen durchgeführt. Die Rote Armee eroberte die so kriegswichtige Krim zurück, Wien wurde bombardiert, Kiew wurde zurückerobert, Berlin wurde ein Trümmerfeld und ständig diese Gerüchte, die Alliierten könnten irgendwo in Frankreich landen, nein, Kurt Schmelz wollte das alles gar nicht mehr hören.
    Ermittlungsrichter Doktor Schmelz wusste im Augenblick nur, er müsse jetzt schnell sein, wenn er noch retten wolle, was zu retten sei, und so stürmte er im Laufschritt los, kaum dass er sich von Tarnat und Meiners verabschiedet hatte. Minuten später stieß er keuchend die Tür zum Krankenbau auf und schob die Wachen beiseite, die den Quarantänebereich sicherten. Er ließ sich auf keine Diskussion ein, funkelte die SS Scharführer nur mit den Augen an und brüllte, sie sollen ihn in Ruhe lassen, wenn ihnen ihr Leben lieb sei, und er spürte, wie sehr ihm die Nerven blank lagen. Vor dem Zimmer, in dem Freudmann und May untergebracht gewesen waren, stand ein dicker, glatzköpfiger Oberscharführer breitbeinig da und ging ihm einen Schritt entgegen, um zu signalisieren, dass er an ihm nicht vorbeikomme, egal wer er sei, aber Hauptsturmführer Schmelz hatte einundzwanzig Monate an der Ostfront gedient, und ja, verdammt, er war mehr als irgend so ein Lahmarsch von Richter! Er war auch ein Frontsoldat, der Tausende Sowjets umgelegt hatte. Kurt Schmelz täuschte mit dem Oberkörper links an, drehte sich jedoch kurz vor dem Gegner einmal um sich selbst und sprintete rechts an ihm vorbei, ehe der schwerfällige Oberscharführer auch nur einen Schritt hatte machen können, und Sekunden später stand der Ermittlungsrichter im Zimmer, in dem es säuerlich roch. Von draußen hämmerte der Oberscharführer gegen die Tür, doch Schmelz interessierte sich nur noch fürs Zimmer, für diesen Gestank, den er als erstes

Weitere Kostenlose Bücher