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Letzte Haut - Roman

Letzte Haut - Roman

Titel: Letzte Haut - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthes und Seitz Verlag GmbH
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zu festigen, am vierundzwanzigsten Dezember begann die sowjetische Offensive westlich von Kiew und am dreißigsten des Monats wurde die deutsche Linie in der Ukraine auf breiter Front durchbrochen. Am Silvesterabend eroberten die Sowjets endgültig Schitomir, während in der ganzen Zeit die Verhöre des Ermittlungsrichters Doktor Schmelz mit dem Verdächtigen Waldemar Hoven zwar erfolglos blieben, der Ermittlungsrichter sich aber stetig versicherte, er werde diesen Mann schon noch verspeisen, wenn er ihn nur lange genug geschmort habe. Ihm bereitete etwas ganz anderes Sorge, als er den Arrestbunker am Neujahrstag vierundvierzig einmal mehr ohne konkrete Ergebnisse verließ und zu seiner Dienstbaracke ging, die in der Nähe der Kommandantur lag. Im Vorzimmer saß Liebig und nahm die Aussage eines Häftlings auf, der tief erschüttert von Hauptsturmführer Hackmann, genannt Diamantenjonny, berichtete, der von vierzig bis zweiundvierzig zweiter Lagerführer von Buchenwald gewesen war.
    Ermittlungsrichter Doktor Kurt Schmelz setzte sich nach einem kurzen Nicken in eine Ecke, um mit einem Ohr zuzuhören, während er über die Problematik nachdachte, die ihm beim Verhör mit Hoven klar geworden war. Er steckte sich nachdenklich eine Zigarette an, gab auch Liebig und dem Häftling eine, der gerade erzählte, die Bärenhütte sei eine Erfindung von Diamantenjonny gewesen, der sie damals täglich habe aufbauen lassen:
    „Eigenhändig hat er aus Latten eine ein Meter fünfzig lange und fünfzig Zentimeter breite Kiste zusammengenagelt. Wir mussten alle zusehen, auf dem Appellplatz, er hatte uns antreten lassen. Durch die Bretter dieser kleinen und schmalen Kiste hat er lange Nägel geschlagen, die acht bis zehn Zentimeter ins Innere ragten, und den Raum zwischen den Nägeln hat er innen mit Stacheldraht verkleidet.
    Aber als Verhörmethode sei die Bärenhütte nicht geeignet, sagte damals Standartenführer Karl Koch, da komme doch kein Wort mehr heraus. Die krepieren doch alle.
    Das nicht, antwortete Hauptsturmführer Hackmann, es ist eher ein Unterhaltungselement, wie auf dem Rummel, am besten geht es mit Zigeunern. Gegen das ganze Lagergrau hier, oder haben Sie etwas gegen gepflegte Unterhaltung, Standartenführer?
    In Lackstiefeln, Reiterhose, enganliegender Uniformjacke und mit der Reitgerte in der Hand baute sich Hackmann auf dem Appellplatz auf, die Diamanten am Rand seiner Stiefel funkelten, und die Kochs standen drei Meter hinter ihm, während er eine Rede hielt, die ich niemals vergessen werde, so grausam war sie. So grausam, dass ich nur das Ende wiedergeben kann:
    Darum sind Zigeuner wie Bären. Ohne Sinn für Heimat, ohne Sinn für Tradition, ohne Sinn für Zivilisation. Und ohne Sinn für Hierarchie. Der Braunbär ist der Feind des Zusammenlebens im Wald, wie wir alle wissen. Er ist Einzelgänger und kümmert sich einen Dreck um die Gemeinschaft im Wald, wie wir alle wissen, und daher muss die Gemeinschaft ihn endlich abschlachten, vortreten!
    Zwischenapplaus, von Koch initiiert, dem sich die Insassen anschließen mussten, die alle nur froh waren, nicht von Hackmann angeschrien worden zu sein.
    Angeschrien wurde der sechzehnjährige Zigeuner Dragowerts Dregen an diesem sonnigen und windigen Oktobertag. Die Bäume, die um das Lager herum standen, waren bunt, obwohl schon viel Laub abgefallen war, das wir täglich verbrennen mussten. Der Blick vom Ettersberg über die jetzt kahlen Felder und braungrauen Wälder der weiten Ebene hätte Ruhe und Besinnlichkeit nach der Ernte ausstrahlen können, wenn hier oben nicht das Lager wäre.
    Mit der Reitgerte hatte Hackmann dem Jungen während der Rede immer wieder aufs Gesicht geschlagen, der aber das kurzzeitige Brennen stur und stumm aushielt, was Diamantenjonny nur noch wütender machte. Er hasste Zigeuner, er hasste Zigeuner mehr als Juden, und es ging das Gerücht, dass seine Mutter eine Zigeunerin war, die sich der Vater vom Balkan mitgebracht hatte.
    Dragowerts Dregen war mit seinen sechzehn Jahren schon einen Meter und fünfundneunzig Zentimeter groß. Er überragte alle, obwohl er nur achtundvierzig Kilogramm wog.
    Schnell war sein Gesicht mit schmalen, blutenden Wunden übersät, doch Hackmann nahm die Reitgerte nur in die andere Hand und peitschte stetig auf das schmale Gesicht des Jungen ein, auf dem ein trapezförmiges Gitter aus Blut entstand. Der Junge stöhnte. Er weinte. Er zitterte.
    Vortreten, schrie Hackmann noch einmal, und Dragowerts Dregen gehorchte.

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