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Letzte Haut - Roman

Letzte Haut - Roman

Titel: Letzte Haut - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthes und Seitz Verlag GmbH
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genommen, ihm die Wange gestreichelt und ihm etwas vorgesungen. Lieder aus ihrem Volk, die sie glücklich machten, die zu ihren Traditionen gehörten. Viele von ihnen hatten dem stummen Jungen das Alphabet ihrer Sprache beigebracht.
    Dragi kannte die Schreibschrift des Polnischen, des Tschechischen, des Ungarischen, des Albanischen und des Französischen. Er kannte viele Silben des Italienischen, doch vom Deutschen kannte er einzelne Buchstaben nicht. Von dieser Sprache kannte er nur Befehlswörter, diese dafür allesamt.
    Rein mit dir, hörte er, und vorsichtig, getrieben von der Gerte, schob er den Unterarm in die Kiste. Er legte ihn auf die Spitzen der Nägel und auf den Stacheldraht, und seine Freunde schielten unter den Lidern zu ihm hin, und Dragi nahm den Arm wieder heraus.
    Hackmann peitschte ihm ins Genick.
    Dragi schrie wortlos und ohne Stimme. Schmerz und Entsetzen drangen ihm aus den Augen, wieder legte er den Arm auf die Nägel und auf den Draht. Er ließ ihn liegen, drückte ein wenig, und er spürte die Nägeln in sich eindringen.
    Er biß sich auf die Unterlippe, dass sie blutete, und langsam kroch er tiefer in die Bärenhütte. Er legte den Oberarm auch auf die Nägel, die Außenseite eines Beines, noch hielt er Kopf und Hals oben, aber von dort drückten ihn Nägel nach unten. Er sah zurück, sah ins sonnendurchflutete Viereck des Eingangs, sah das bunte Laub hinterm Zaun.
    Tränen schossen ihm heraus, doch Dragi zog auch das andere Bein herein, und stumm schrie er vor Schmerzen, spürte die Nägel überall in sich eindringen; Stacheldraht, der auf Knochen traf und an ihnen schabte.
    Ich finde es einfach wunderbar, rief Hackmann, ist er nicht süß? Wie er kämpft! Und kein Wort dabei! Nicht einen Schrei, fast könnte man meinen, er hätte etwas Menschliches!
    Hackmann, Sie gefallen mir, erwiderte Koch, und seine Frau, sich mit der Zunge über die Lippen fahrend, rief, ein Mann wie ein Pferd!
    Nach siebenundzwanzig Minuten war es Dragowerts Dregen, benommen vor Schmerzen, gelungen, seinen ein Meter und fünfundneunzig Zentimeter langen und knapp fünfzig Kilogramm leichten Körper in die einen Meter fünfzig mal fünfzig Zentimeter kleine Bärenhütte zu zwingen. Tief steckten ihm überall Nägel und Stacheln im Leib, die Spitzen bohrten sich in seine Knochen, und Dragi versuchte, sich nicht zu bewegen, er versuchte, nicht einmal zu atmen, ach, würde sein Herz doch nur nicht so heftig schlagen!
    Tapferer Kerl, schrie Hackmann, der schreit nicht mal!
    Das ist eine große Erfindung, antwortete Ilse Koch, eine ganz und gar große!
    Hackmann nickte, bückte sich, verschloss die Kiste, indem er einen Metallhaken in eine Öse steckte, holte mit dem Zeigefinger vier Freunde von Dragowerts Dregen zu sich und sagte, jetzt komme man zum Höhepunkt der Vorstellung. Die Dressur des Bären!
    Würgende Geräusche stieß der gefangene Dragi aus, während Hackmann die vier Zigeuner peitschte, welche die Bärenhütte über das Kopfsteinpflaster des Appellplatzes von Buchenwald rollen mussten. Bei jeder Erschütterung drangen die Nägel und die Stacheln tief in Dragowerts Dregen ein. Sie zerfetzten seine Haut, rissen das wenige Fleisch auf, zerkratzten ihm die Knochen bei lebendigem Leib, und mit jedem Ruck stachen ihm Nägel in die Brust, in den Hals und selbst in die Augen und Lippen. Blut sammelte sich auf dem Holz, während ihm das Rollen der Kiste zu Hammerschlägen auf die Nägel wurde, obwohl seine vier Freunde doch heimlich versuchten, die Rucke jedes Mal abzufedern, wofür sie wütend von Hackmann gepeitscht wurden, der verlangte, sie sollen schneller sein, sie sollen die Kiste werfen, doch: Sie taten es nicht.
    Nach vierzehn weiteren Minuten war das pochende Herz von Dragowerts Dregen fest an das Holz genagelt, und nach weiteren drei Minuten hörte es auf, sich zu wehren.
    Seine Leiche jedoch wurde noch über eine Stunde lang über den Platz gerollt.
    Aus den Ritzen zwischen den Brettern quoll das Blut heraus und sickerte in den Boden. Es ließ ein trapezförmiges, hauchdünnes Gitter auf den Steinen des Platzes zurück, und Gott mußte an diesem Tag das riesige Gesicht des Jungen Dragowerts Dregens gesehen haben. Jenes vergrößerte Abbild des geschundenen Gesichts des Jungen, auf das ein Gitter gepeitscht worden war, es drang durch die Sonnenstrahlen, durch das Blau des Himmels, das doch eigentlich pechschwarz war. Es drang zwischen den Sternen hindurch, die doch alle in der Hauptsache nur eiskalt waren,

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