Letzte Haut - Roman
annähme, die sich alle eingefunden hätten. Und tatsächlich, als oberster Gerichtsherr des Oberabschnitts, in dem dieses Tribunal stattfand, war er ja auch der mächtigste Mann hier, also, was konnte ihnen denn überhaupt passieren? Tarnat lehnte sich zurück und musterte die Elite der Waffen SS, die sich eingefunden hatte, als die Tür sich öffnete, die Richter hereinkamen und ein Sprecher schrie: „Das hohe Gericht! Bitte erheben Sie sich! Das hohe Gericht!“
Alle erhoben sich, auch der Prinz, nachlässig zwar, aber er erhob sich doch, sah Tarnat, und bevor Obersturmbannführer Doktor Ende auf dem breiten Sessel hinter dem Richtertisch Platz nahm, über dem das Führerporträt hing, an das ein Unbekannter vor einer Woche den Trauerflor geheftet hatte, was erst drei Tage später bemerkt worden war und für einen riesigen Skandal gesorgt hatte, sagte er: „Setzen Sie sich, meine Herren! Nehmen Sie Platz!“
Selbstsicher wirke er, stellte Schmelz zufrieden fest. Er sah dem vorstehenden Chefrichter zu, der seine Akten auf dem Tisch ausbreitete, den beisitzenden Richtern letzte Anweisungen gab und mit dem Holzhammer auf die runde, eingelassene und mit Samt ausgelegte Stelle des Tisches schlug, die dafür vorgesehen war.
„Meine Herren, ich erkläre die Strafsache gegen SS Standartenführer Karl Otto Koch und andere unter Ausschluss der Öffentlichkeit für eröffnet. Dies ist das SS Sondergericht zur besonderen Verfügung. Es ist mit allen Rechten und Pflichten ausgestattet, denen Gerichte unterworfen sind, um Vergehen und Verbrechen innerhalb der Waffen SS verfolgen und ahnden zu können. Es untersteht weder dem Reichssicherheitshauptamt noch dem Justizministerium. – Gerichtsdiener, führen Sie die Angeklagten herein! Fürs Protokoll: Sitzungsbeginn, vierter Dezember vierundvierzig, zehn Uhr dreißig. Weimar.“
Als erste wurde Ilse Koch in den Käfig gebracht. Sie trug ein einfaches, graues Kostüm und reagierte zurückhaltend und schüchtern. Schmelz hatte eine ganze andere Frau in Erinnerung. Wie ausgewechselt! Wenn er noch daran dachte, wie sie sich in Buchenwald aufgeführt hatte! Dass diese Frau es fertig gebracht hatte, selbst in der Untersuchungshaft noch schwanger zu werden! Und für einen Moment kam so etwas wie Mitleid in ihm auf, oder eher eine leichte, schnell vorübergehende Irritation. Er dachte an die Zeugenaussage eines Häftlings, sie habe persönlich Gefangene mit der Peitsche geschlagen. Sie habe obszöne Bemerkungen zu den Häftlingen gemacht, und zu denjenigen, die in ihre Nähe gekommen seien, habe sie gesagt, sie sollen ruhig zu ihr hinsehen, wenn ihnen ihr Arsch fünfundzwanzig Stockschläge wert wären. Wegen der Insassen habe sie in Buchenwald absichtlich Kleidung getragen, die erregen solle. Sie sei beispielsweise zu einem Graben gekommen, in dem französische Kriegsgefangene geschuftet haben, sie habe sich breitbeinig hingestellt, wobei sie unter dem Rock kein Höschen getragen habe, und als ein junger Franzose zu ihr hochgesehen und verträumt gelächelt habe, da habe sie auf ihn eingeprügelt. Sie habe ihrem Mann die Häftlingsnummer mit der Bemerkung gegeben, der Mann wäre ihr frech gekommen, und Karl Koch habe die Nummer an Martin Sommer telefonisch weitergegeben, der den jungen und charmanten Franzosen kurzerhand auf der Flucht erschossen habe. Jedes Mal, wenn ein Gefangener ihr nachgeschaut habe, sei es ihr ein Vergnügen gewesen, dafür zu sorgen, dass dieser hart bestraft oder getötet wurde, doch nun saß sie zusammengesunken im Käfig des Gerichtssaals, sah schüchtern um sich und wirkte sichtlich erleichtert, als sie ihren Mann eintreten sah, den sie in den letzten achtzehn Monaten, in denen sie in Untersuchungshaft gewesen war, nicht ein einziges Mal gesehen hatte. Schmelz hielt schon das für einen seiner Erfolge. Er musterte sie weiter, konzentrierte sich dann aber auf Karl Koch, der ebenfalls verunsichert und stark geschwächt wirke, wie er zufrieden feststellte. Schmelz freute sich schon jetzt, ihm den Rest zu geben. Wenn er ihm die wahre Natur seiner Frau präsentiere, das werde Karl Koch nicht wegstecken können, war er sich sicher.
Die beiden setzten sich im Käfig dicht nebeneinander und hielten sich bei den Händen. Sie sahen kaum einmal auf und flüsterten ununterbrochen miteinander. Sie reagierten auch nicht, als Waldemar Hoven, Martin Sommer und Heinrich Hackmann hereingebracht wurden, die hinter dem Ehepaar auf der anderen Metallstange hockten, die
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