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Letzte Haut - Roman

Letzte Haut - Roman

Titel: Letzte Haut - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthes und Seitz Verlag GmbH
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abrupt vom Boden zu reißen, sondern nach und nach die Hacken zu heben, erst den einen, dann den anderen, dann erneut den anderen und wieder den einen, während er den Schlips aufzog und die oberen Hemdknöpfe öffnete.
    Schließlich gelang es ihm doch, einen Fuß ganz zu heben, wenig später auch den anderen. Mit Schmerzen, die erträglicher wurden, die auszuhalten waren, ging er steifbeinig die wenigen Schritte rückwärts zum Stuhl, um sich erschöpft und mit rasendem Herzen auf ihn fallen zu lassen. Er hält, dachte Schmelz, er trägt mich! Gott sei Dank, ich sitze!
    Für einen Moment schloss er die Augen, atmete durch und sah sich danach im Flur um, als habe er ihn noch niemals zuvor gesehen. Schmelz betrachtete die vier halbgeöffneten Zimmertüren, war das sein Gefängnis? Kam er hier nicht mehr heraus? Aus dem abgenutzten Flur der Wohnung, in der er mit Anna seit über dreißig Jahren wohnte? Dieser Flur, durch den er so oft gedankenlos geschritten war? Dieses Niemandsland zwischen Draußen und Drinnen, hielt dieses Grenzland ihn fest? Nicht einmal ein paar Münzen hatte er für den Fährmann des Todes dabei; nicht, dass er bis in alle Ewigkeit am Ufer des Jordans bleiben musste! Was reimte er sich da nur zusammen? Kurt Schmelz schüttelte den Kopf, zeigte seinem Spiegelbild einen Vogel und schüttelte noch einmal den Kopf, ehe er dachte: Liebe ist die zerstörerischste Macht im Leben, nicht Hass. Hass hält wenigstens im Leben, solange er nicht gestillt ist, aber wen interessiert das schon? Wird deswegen etwa weniger geliebt? Ich denke, nein! Mit der Liebe geht es in den Tod, niemals mit dem Hass. Liebe ist eine Sehnsucht nach dem Tod.
    Er war zusammengesunken, Schultern und Kopf hingen herunter, eine Haltung, die ihn schmerzte, die sein Körper nicht gewohnt war, die sein Leib gar nicht kannte! Aber der Wille, die Brust herauszustrecken, gerade zu sitzen und das Knacken der Rückenwirbel zu spüren, der fehle ihm plötzlich, stellte er fest. Wo war er nur hingeraten? In den Spiegel gefallen? In die blauen Pupillen, die so offen gewesen waren, aus denen soviel herausgeschossen kam, dass doch eigentlich gar kein Platz fürs Hineinfallen gewesen war? Doktor Schmelz schüttelte den Kopf, mühsam, alles ging mühsam heute, so mühsam wie seit langem nicht. Als hätte er einen Schlaganfall erlitten, aber es war doch nichts! Das Herz arbeitete, ruhig, gewissenhaft und ohne Unterbrechungen, das Herz war in Ordnung, aber was war es dann? Der Atem ging ebenmäßig, sicher. Wenn er auf seinen Atem achtete, dann beschleunigte sich der Herzschlag zwar, aber das kannte er ja, das passierte ihm doch immer, wenn er seinem Atem lauschte. Das war nichts Ungewöhnliches.
    Sein Blick fiel auf die vergilbten Blätter, die ihm Tarnat vor fast vierzig Jahren als Bericht aus Auschwitz geschickt hatte. Auschwitz, noch so eine Hölle! Oder das Lager Plaszow! Der dortige Kommandant, dieser Sadist, der die Häftlinge im Alter zwischen siebzehn und zwanzig Jahren nackt antreten ließ, um sich einen Jungen auszusuchen, den er dann vor den Augen aller erschoss. Mindestens einmal am Tag hetzte er seinen Hund Rolf auf einen Häftling, um den Menschen vom Tier zerfetzen zu lassen. Amon Leopold Göth, einziger Sohn eines Wiener Verlegers, dem ich im Herbst vierundvierzig den Prozess gemacht habe. Wegen Unterschlagung und Wehrkraftzersetzung, nicht aber wegen des dreizehnten Märzes dreiundvierzig! An diesem Tag leitete er die Zerstörung des Krakauer Ghettos, wobei viertausend Menschen umgebracht wurden. Viertausend an einem Tag! Unser Todesurteil konnte leider nicht mehr vollstreckt werden, der Zusammenbruch des Reiches kam uns fünfundvierzig dazwischen, aber die Nordamerikaner haben Göth ja den Polen übergeben, und die Polen hängten ihn unweit seines Lagers auf. Tja, aber schlage mal der Hydra einen Kopf ab, schon kannst du zusehen, wie zwei neue wachsen, dachte Schmelz.
    Er sah plötzlich die Witwe Göth vor sich, die er in den späten siebziger Jahren besucht hatte. Sie war Sekretärin im Münchner Goethe Institut, und als er in ihre Wohnung kam, die auch schon bessere Zeiten gesehen hatte, und sie sich gesetzt hatten, da sagte sie doch über das Lager Plaszow: „Es war eine schöne Zeit. Wir waren gerne miteinander. Mein Göth war König, ich war Königin. Wer würde sich das nicht gefallen lassen?“
    Schmelz räusperte sich, schreckte auf, als auf einmal Licht durch die matte Scheibe der Wohnungstür schimmerte. Schmelz horchte,

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