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Letzte Haut - Roman

Letzte Haut - Roman

Titel: Letzte Haut - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthes und Seitz Verlag GmbH
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aus dem Äther, das war ihm auch klar. Schließlich hatte er nicht für das Radio Gottes bezahlt. Nicht eine müde Mark hatte er gespendet. Er räusperte sich.
    Im Spiegel konnte er den Stuhl sehen, den ersehnten, der schräg hinter ihm an der Wand stand. Auf den er sich in den letzten dreißig Jahren so oft gesetzt hatte, um sich die Schuhe zu binden, oder um sich die Stiefel abzustreifen, und nun? Nicht einmal zwei Meter, schätzte er, aber sobald er den Körper nur ein wenig verlagerte, brannte es ihm so sehr in den Beinen, dass er meinte, auf einem Scheiterhaufen zu stehen. Aber was für ein Scheiterhaufen sollte das denn sein?
    Er war doch gleich nach dem Krieg entnazifiziert worden. Ein halbes Jahr in einem Internierungslager in Bayern, zusammen mit Nazigrößen, die zum Glück nicht wussten, wer er war und was er vorhatte. Die ihn dann aber während der Nürnberger Prozesse wiedererkannten, als er gegen fast jeden von ihnen aussagte. Haarklein hatte er den Alliierten die Struktur der SS erklärt, das System der Konzentrationslager, ja, er war es gewesen, der ihnen all die Namen der ehemaligen Lagerleiter genannt hatte, denn er hatte gegen jeden von ihnen Beweismaterial angehäuft. Und wäre ihm der Zusammenbruch nicht zuvorgekommen, noch im April fünfundvierzig hatte er beim Reichssicherheitshauptamt Anklage gegen den Obergruppenführer Pohl eingereicht! Er hatte eine lückenlose Beweiskette gegen den Chef des WVHA zusammen gehabt! Und nur zu dumm, dass er während seiner Flucht vor den Sowjets von Königsberg über Schlesien nach Böhmen geflohen war und all seine Koffer in Böhmen verloren hatte. Kurt Schmelz kniff die Augen zusammen und dachte: Also, auf was für einem Scheiterhaufen soll ich denn stehen, bitte schön? Auf was für einem?
    Was konnte er denn dafür, dass seine Anklage noch Ende April fünfundvierzig wegen Überlastung der Gerichte abgewiesen worden war. Dass er nicht lachte! Wegen Überlastung! Wohl eher wegen Feigheit! Verdammt! Diese Schmerzen! Sollte er etwa so sterben? Vor dem Spiegel stehend, bis er in ihn hineinfiel? Kurt Schmelz presste die Hände vor Wut so fest um den Rahmen, dass die Knöchel weiß hervortraten. Unwürdig, dachte er, absolut unwürdig, wie ich hier stehen muss!
    Er atmete tief durch, und rief, auch wenn ihm klar war, dass es nichts half, er war ja nicht verkalkt oder so: „Anna! – Anna, verdammt noch mal, Anna, wo steckst du?“
    Wohin konnte sie überhaupt sein? Kurt Schmelz überlegte, aber ihm fiel niemand ein, der sie aufgenommen haben könnte. Alle schon tot! Niemand mehr da. Mit einem Koffer! Mit einem Koffer hier heraus zu marschieren, geradeso, als verlasse sie noch einmal Oberschlesien! Wer hatte sie denn nach dem Krieg aufgenommen? Wer hatte ihr denn in den Wirren, als es soviel Hunger und Elend gab, ein ganzes Zimmer für sich allein gegeben? Brot und Suppe? Doch er, Kurt Schmelz, neu ernannter Notar und Rechtsanwalt in seiner Heimatstadt Frankfurt am Main. Und wer hatte ihr geholfen, den Bruder wiederzufinden, der auf einem anderen Treck gelandet war? Der Verlorene, der nur verloren geglaubt gewesen war? Na, er doch! Doch er, Kurt Schmelz! Sicherlich, aus Liebe hatte sie ihn nicht geheiratet, dazu war der Unterschied von achtzehn Jahren wohl dann doch zu groß, aber hielten nicht gerade diese Ehen ein Leben lang, die nicht auf dem Sandboden des Verliebtseins gegründet worden waren? Doch! Natürlich! Und nun? Nichts!
    Man hätte reden sollen, aber das Reden beschwor doch all zu oft eine Konsequenz herauf, die dann nicht mehr zu ändern war. Der man sich dann auch stellen musste, wenn sie ausgesprochen worden war. Tatsachen, die nicht durch Handeln, sondern durch Reden geschaffen wurden, die blieben doch immer aalglatt. Schlüpfrig. Die wuchsen doch im tiefsten Schatten, bis sie alles Wasser aus dem Waldboden gesaugt hatten. Darauf verstand er sich eben nicht. Er, Kurt Schmelz, verstand sich aufs Handeln, und deswegen hatte er auch nach dem Krieg nicht viel als Rechtsanwalt zustande gebracht, aber dennoch! Dennoch, man hätte reden sollen, vielleicht wäre sie dann auch nur schon früher gegangen, na ja, auch keine so tolle Vorstellung! Letztlich bringt das Reden gar nichts und macht nur korrupt, dachte er, wer kommuniziert, der prostituiert.
    Er räusperte sich.
    Schmelz, der den Blick immer noch auf den Boden geheftet hielt, war dazu übergangen, mit kleinsten Bewegungen die Lage seines Körpers zu ändern. Er versuchte nicht mehr, die Füße

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