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Letzte Haut - Roman

Letzte Haut - Roman

Titel: Letzte Haut - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthes und Seitz Verlag GmbH
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Gedankens musste dieser junge Schriftsteller also noch einmal heran, da half gar nichts, das Ende konnte so nicht bleiben. Schließlich war Wahrheit, was sich auszahlte. So hatten es die Philosophen aus Amerika sehr treffend formuliert. Sehr treffend und sehr richtig!
    Kurt Schmelz war nahe daran, dies zu notieren und es dem jungen Mann zukommen zu lassen, aber wie er die Jugend so kannte, wollte sie eh keine Ratschläge haben. Nun gut, er kannte sie nicht gut, schließlich hatte er nicht einmal eigene Kinder, auch hatte er keinerlei Verwandtschaft, aber was er so im Allgemeinen gehört hatte, das war doch, dass die Jugend die Ernsthaftigkeit verloren habe und wirklich glaube, wirklich und tatsächlich, die Welt befinde sich im Geldbeutel der Eltern. Kurt Schmelz sah sich im Spiegel grinsen und erschrak über diese Grimasse.
    Also nicht ins Kanzleizimmer, der Anrufbeantworter war ja sowieso abgestellt. Ins Wohnzimmer? Aber was dort anstellen? Den Fernseher? In die Küche? Das schon eher! Sich schön an den Küchentisch setzen, aus dem Fenster sehen und das Radio dudeln lassen, nur nicht zu laut! Doch da lauerte auch nur sein Spiegelbild in den Scheiben! Nein, nein, da konnte er genauso gut hier sitzen bleiben und sich dem echten Spiegel stellen. Klare Konturen, keine Flecken auf dem Flurspiegel, keine Ablenkung. Nein, Kurt Schmelz war sich auf einmal sicher, er wolle keine Ablenkung. Nicht heute Abend, vielleicht sogar niemals mehr! Er hatte sich genug abgelenkt in seinem Leben. Mit der Arbeit, mit dem Gequassel Annas, mit den täglichen Unwichtigkeiten, die sie immer für so wichtig gehalten hatte. Nein, Ablenkung ist etwas gegen Langeweile, dachte er, aber ich habe heute Abend keine Langeweile. Nicht heute und auch nicht morgen. Ich bleibe einfach hier sitzen und schaue zu, was passiert.
    Etwas passiere ja immer, meinte er. Sein Leben lang hatte er dafür gesorgt, dass etwas passierte, aber nun wollte er es einmal damit versuchen, hier sitzenzubleiben und aufs Geschehen zu warten. Dieser Lärm!
    Die Frau, die an seiner Wohnungstür vorbeigegangen war, lief ununterbrochen mit Stöckelschuhen über das Parkett ihrer Wohnung. Sie wohnte über Schmelz, doch noch nie war ihm aufgefallen, wie laut diese Geräusche durch die Decke kamen. Und allmählich ärgerte es ihn, es ärgerte ihn so sehr, dass er dieses kleckernde Klackern gar nicht mehr überhören konnte.
    Es fehlte nicht viel, und Kurt Schmelz hätte sich erhoben, die nervtötende Nachbarin hätte ihn aus seinem Zustand geholt, gerettet hätte sie ihn vielleicht sogar, doch dann hörte es mit einem Male auf, und nun waren nur noch Fernsehgeräusche zu hören. Ein beständiges, sehr leises Rauschen, das der alte Mann gut überhören konnte. Er brauchte sich dafür noch nicht einmal anzustrengen, es gelang ihm jedenfalls leichter, als diese Essensgerüche aus der unteren Wohnung, die durch den Boden zu ihm hinauf drangen, zu ignorieren.
    Es war ein altes Haus, ja sicher, aber ob man deswegen den Mietern die Zubereitung von Kartoffelsuppe verbieten konnte? Schmelz war sich nicht sicher, gab es da nicht ein Gerichtsurteil aus dem Jahre vierundsechzig? Nein, an was er dachte, das hatte mit Bürogebäuden zu tun, schade!
    Die Stehlampe schräg hinter ihm warf nur ein schwaches Licht in den Flur.
    Ein echtes Niemandsland hier, dachte er, vielleicht sind vierzig Watt doch zu geizig gedacht?
    Er konnte ja von hieraus nicht einmal sein Spiegelbild betrachten! Aber war das nicht auch schon egal? Kannte er sich nicht zur Genüge?
    Kannte er sich? Ein Mann, dachte er, der Zeit seines Lebens handelt und handelt, der hat doch eigentlich wenige Erkenntnisse über sich gewonnen. Er weiß zwar, wie das Ding hier funktioniert, aber er weiß nicht, wer da überhaupt funktioniert. Nein, das habe ich mal wissen müssen! Das habe ich nur vergessen. Ausgeschlossen, dass ich so dumm durchs Leben gerannt bin! Das ist nur verdrängt und wird wieder hervorgeholt, schließlich habe ich neunzehn vierunddreißig die beste juristische Staatsprüfung von ganz Deutschland hingelegt! Meine Dissertation ‚Kriegspropaganda und Kriegsverhütung‘ erschien sechsunddreißig im renommierten Universitätsverlag Noske zu Leipzig. Bei Noske! Als Band vier der Schriftenreihe ‚Wesen und Wirken der Publizistik‘! Und ich, ich war der jüngste Richter an einem deutschen Gericht. Ich hatte mich vor Angeboten nicht retten können. Kiel, München, Köln, aber ich entschied mich für Stettin! Schlau wie ein

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