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Letzte Haut - Roman

Letzte Haut - Roman

Titel: Letzte Haut - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthes und Seitz Verlag GmbH
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sein! Sonst kam es doch nur zu solchen Zuständen wie hier. Ein willkürliches Ermorden und Vergewaltigen, ein Bestehlen und Belügen, nein, immer schön ein Schritt nach dem anderen. Erst eins, dann zwei, dann drei, dann vier.
    Kurt Schmelz stand auf, glättete die Uniform und sagte: „Meine Herren, es hilft ja nicht, hier in Scham und Schande zu versinken. Tun wir, was möglich ist. Tun wir, was unsere Pflicht ist. Suchen wir Beweise, und schaffen wir Tatsachen. Wer weiß, vielleicht können wir so den Insassen hier helfen. – Mein Gott, ich weiß doch auch nicht! – Wir müssen darüber hinwegsehen, verstehen Sie, hinwegsehen!“
    „Sie haben es gut“, sagte Liebig, immer noch auf dem Stein sitzend: „Sie waren an der Ostfront. Sie haben Leichen gesehen, Leichenberge gerochen, Sterbende angefasst. Sie haben schon alles hinter sich. Totschießen und so, aber ich, ich war völlig unvorbereitet! Völlig un …“
    „Nein“, unterbrach ihn Tarnat: „Sagen Sie jetzt nicht ‚unschuldig‘, nein, sagen Sie es nicht, Liebig.“
    Liebig sagte es nicht, Schmelz musterte ihn genau und es schien ihm, dem jungen Mann sei nun auch etwas eingefallen, womit er sich schuldig gemacht habe. Dieser erschrockene Blick! Dieses maskenhafte Gesicht! Dieses Anhalten des Atems, der professionelle Ermittler sah seinem Mitarbeiter an, dass auch er etwas zu verbergen hatte. Schmelz setzte nicht nach, er befand sich in keinem Verhörzimmer, er registrierte erfreut, dass Liebig aufstand und sich ebenfalls seine Uniform straff zog. Leichenblass sah er aus, aber er stand! Er stand wieder! Obersturmführer Doktor Kurt Schmelz war zufrieden.
    Du warst damals zufrieden, dachte der Alte und sah sich unbeirrt weiter in den gespiegelten Blick, alles andere interessierte dich nicht. Du wolltest nur wissen, was du wissen wolltest. – Was das wohl gewesen sein mag? Hatte der Liebig in seiner Heimatstadt eine Judenfamilie verraten? Hatte er eine deutsche Familie verraten, die einen Juden versteckt hielt? Oder hatte er einfach nur kräftig beim Einsammeln der Juden geholfen und wurde ihm nun, beim Anblick des Lagers, klar, was er angerichtet hatte? Irgendwas war ihm da schlagartig eingefallen, und zwar so schlagartig, dass er wie ausgewechselt war. Wie ausgewechselt! Wer? Wer konnte sich denn damals als unschuldig bezeichnen? Unschuldig wovon? Mit gesundem Menschenverstand? Wir waren krank, kranke Tiere! Genauso krank wie die Neonazis heute! Kaputte, dumme, verblödete Existenzen, die nichts begreifen, rein gar nichts! Die in Lager gesteckt gehörten, in Konzentrationslager! Wie oft habe ich den Kahlköpfigen schon auf der Straße entgegen brüllen wollen: ‚Was wollt ihr sein? Gute Deutsche? Abschaum, ihr seid Abschaum! Ein Deutscher, der gut ist, der tötet keine Unschuldigen! Der respektiert das Leben aller! Respekt, Respekt vor dem Leben! Euer Hass betrifft euch, nur euch, er meint euch selbst. Euer Hass ist so lächerlich! Und ihr seid kaputt! Defekt!‘
    Wer tötet, oder wer die Absicht hat zu töten, der gehört nicht ins Leben, dachte der zweiundsiebzigjährige Schmelz: Der muss eine Zielscheibe auf seiner Kleidung tragen.
    Schmelz wankte ein wenig, musste sich am Spiegelrahmen festhalten, und nach langer Zeit bewegte er wieder einmal die Augenlider.
    Über eine Stunde hatte er seinem Spiegelbild in die Augen gestarrt. Über eine Stunde, und mit einem Male bemerkte er, wie ihm die Krampfadern zu schaffen machten. Wie sie in den Waden brannten und stachen und das Blut hinderten, zu den kalten Füßen zu gelangen.
IX
    „Anna“, flüsterte der zweiundsiebzigjährige Schmelz im schummrigen Flur seiner Frankfurter Wohnung: „Anna!“
    Die Beine schmerzten ihm nach dem langen Stehen so sehr, dass er sie nicht mehr bewegen konnte. Schon die kleinste Gewichtsverlagerung schien ihm die Adern in den Waden aufzureißen, aber er musste doch zum Stuhl gelangen! Er konnte doch nicht hier für alle Zeit vor dem eigenen Spiegelbild stehen bleiben, bis er umkippte und tot war! Erneut rief er nach seiner Frau, ehe ihm einfiel, dass sie ja fort war. Weg! Dass sie ihn ja verlassen hatte. Dass sie der Feigheit vor dem Freund unterlegen war. Kurt Schmelz hielt sich am dicken Rahmen des Spiegels fest und senkte den Blick. Es war das erste Mal, dass er den Blick vor einem anderen Blick senkte. Er konnte sich nicht erinnern, sich schon jemals so gedemütigt gefühlt zu haben, so auf eine Stimme hoffend, die ihm einen Weg weise.
    Es kam natürlich keine Stimme

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