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Letzte Haut - Roman

Letzte Haut - Roman

Titel: Letzte Haut - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthes und Seitz Verlag GmbH
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Fuchs beim Entenklau habe ich gedacht, ich könne dort zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Die Nähe zur Reichshauptstadt und das Seegericht in Stettin. Oh ja, wie gerne hätte ich mich aufs Internationales Wirtschafts- und Seerecht spezialisiert! Das wäre mein Fall gewesen. Die Stellung am Landgericht war ja nur als Anfang gedacht, wurde dann aber leider sehr schnell Schnee von gestern. Hat mir doch dieser Österreicher einen Strich durch die Rechnung gemacht mit seinem Großdeutschland. Vollidiot! – Tja, so fing das damals an, aber wie hört es auf?
    Schmelz ließ den Blick in den Schoß fallen, auf die Hände, deren Haut völlig zerkratzt war. Vorsichtig strich er über die langen, schmalen Wunden. Sie waren noch immer frisch, stellte er fest. Erneut lockerte er die Krawatte und öffnete den Hemdkragen. Er ließ die Hände sinken, dann hob er sie wieder und strich sich vorsichtig übers Gesicht. Auch hier spürte er die Wunden. Auf der Stirn, auf den Wangen, auf Kinn und Nase, alles war mit Kratzwunden übersät. Er drückte die flachen Hände kurz übers Gesicht, als halte er ein nasses, kühles Tuch darüber, doch dann, zuerst presste er nur die Handballen gegen den Kopf, begann er wieder, sich das Gesicht aufzukratzen. Es tat ihm weh, er blieb mit den Nägel in den Furchen zwischen den Falten hängen, er riss an den Falten, er drückte die Nägel tief ins Fleisch, er holte Fetzen heraus und kratzte immer wieder kreuz und quer übers Gesicht und über die nackte Kopfhaut; was war nur los mit ihm? Was juckte ihn da nur so?
    Er presste die Lippen aufeinander, kratzte sich mit aller Kraft die Haut an Nacken und Kehle auf, spürte Feuchtigkeit zwischen den Fingern, verrieb sie und drückte sich den Kehlkopf in den Hals, bis er husten und würgen musste.
    Kurt Schmelz spürte, wie sich Blut auf der Nasenspitze sammelte, auf die Oberlippe rann, zur Kinnspitze lief und abtropfte. Kurt Schmelz hielt ganz still, die Hände flach auf den Schenkeln, leicht vornübergebeugt schielte er mit erhobenem Kopf auf den Boden, um das flüssige Rot zu betrachten.
    Sein Blut, wie hatte er um dieses Blut gekämpft, wie viele Feinde hatte er an der Front getötet, wie viele Aktenordner hatte er zwischen sich und seinen Feinden innerhalb der SS geworfen, um sie nicht zu nahe an sich herankommen zu lassen, und nun? Nun vergeudete er es! Untätig saß Kurt Schmelz auf dem wackligen Stuhl im schummrigen Flur und sah die Lache Blut sich vergrößern.
    Er sah still und starr dem Verlassen seines Blutes aus seinem Körper zu, doch obwohl ihm dieser Moment ewig schien, wusste er doch, dass es nie soviel Blut werden würde, um ihn ernsthaft in Gefahr zu bringen. Dafür waren die Wunden ja viel zu klein und zu oberflächlich. Hautwunden! Nichts weiter als Hautwunden! Da müsste er sich schon die ganze Haut vom Leibe reißen.
    Kurt Schmelz lehnte sich zurück, legte ein Bein auf das andere, rückte sich ein wenig zurecht, um besseres Licht zu haben, und begann sich, tief in sich selbst versunken, konzentriert und gewissenhaft die Hautfetzen unter den Fingernägeln hervorzuholen. Achtlos ließ er die winzigen Fetzen fallen.

VERHAFTET

I
    Knapp drei Wochen nach dem Rundgang durch Buchenwald waren die Ermittler noch keinen Schritt weitergekommen. In den ersten Tagen hatten sie sich soviel wie möglich in den Kasernen aufgehalten, Akten durchforstet, die Pister ihnen gegeben hatte, Theorien aufgestellt und verworfen, Möglichkeiten geprüft, aber schließlich waren sie zu dem Ergebnis gekommen, einen Mann wie Koch könne man nicht mit alten Akten überführen, einen Mann wie Koch müsse man überraschen. So einen erwische man nur, wie man einen Panther erwische: einzig in dem Augenblick, in dem das Tier selbst seine Beute stelle.
    Überraschung, Blitzkrieg, und das waren ja auch die Möglichkeiten, die Schmelz entgegenkamen. Funktionierte so nicht auch das ganze Reich? Tatsachen schaffen, einfach erst einmal Tatsachen schaffen, das andere ergab sich dann schon? Schmelz war sich sicher.
    Zuerst waren sie nur zu dritt durch das Lager gegangen, hatten die Szenen aus den Augenwinkeln betrachtet, hier und da einen unteren Dienstgrad angeschnauzt, er solle nicht so fest zuschlagen, er solle es nicht übertreiben, ein toter Arbeiter sei ein schlechter Arbeiter; aber was brachte das schon!
    Schließlich hatten sie auch das eingestellt und sich einfach mit der Realität abgefunden. Sie hatten sich daran gewöhnt, dass neben ihnen gefoltert, ermordet

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