Letzte Haut - Roman
und auf einmal hatte er doch den Willen, sich gerade hinzusetzen. Schweigend und mit durchgestreckter Brust wartete er auf die ersten Geräusche. Was sollte er Anna sagen? Am besten gar nichts! Am besten erst einmal hereinkommen lassen. Kurt Schmelz räusperte sich erneut, schloss die Knöpfe des Hemdes, was nicht so schnell ging wie er wollte, verdammt, wieder eine dieser Tätigkeiten, die er nach Annas Abwesenheit erst wieder erlernen müsste, und er zog auch den Schlips wieder zu, nicht so fest, dass er ihm den Hals quetschte, denn schlucken müsse er schon ganz schön, stellte er fest. Er drückte den Rücken gegen die hohe, mit Leder beschlagene Lehne des Stuhls, stellte die Beine ein wenig auseinander, füllte die Sitzfläche des alten Stuhls aus und legte die Unterarme auf die mit weinrotem Samt bezogenen Armlehnen. Er sah zur Tür und wartete.
Die Blätter! Sollte er aufstehen und riskieren, dass sie ihn in gebückter Haltung vorfand? Nein! Doktor Kurt Schmelz blieb auf seinem Stuhl und lauschte. Da, die ersten hörbaren Schritte, erste Etage, das Ende der ersten Etage, jetzt war ihre Etage dran, die Etage Nummer zwei, die ersten Stufen, und immer weiter, ja! Komm schon! Komm, Anna, halt jetzt nicht an wie immer, dachte er, und lass doch meinetwegen den Koffer auf halber Treppe stehen! Ich hole ihn später, ich mache mich später auf! Lass uns erst einmal zusammen ein Glas Pfefferminztee trinken, Anna, na los, gib dir einen Ruck, was, Anna, wir haben doch schon ganz andere Sachen überstanden! Wir zwei! Einen schönen Pfefferminztee! Nicht den billigen! Wir gönnen uns heute mal den aus dem Feinkostladen, Anna, also, ich bin dafür! Du auch? Anna? Anna? He, Anna, was machst du? Hier ist die Nummer zwei, Anna. Hier sitze ich, ich sitze hier im Dunkeln und warte! Ich warte auf dich, dachte er.
Und halb hatte er sich schon aufgerichtet, als ihm klar wurde, dass es eine der Nachbarinnen war, die über ihm wohnten. Einen Moment verharrte er, mit dem Hosenboden in der Luft, schwer auf die Lehnen gestützt, als das Flurlicht mit einem Klacken ausging. Ein Geräusch, das er deutlich hörte. Mit einem Stöhnen ließ er sich fallen, die Hände untätig auf den Beinen lassend.
Kurt Schmelz starrte die Tür an, die geschlossen blieb, mit offenem Mund, aus dem Speichel floss, ein schmales Rinnsal, das er erst spät bemerkte. Er wischte sich mit dem Hemdsärmel die Lippen trocken, und immer noch war er fassungslos.
Was sollte er machen? Was war wichtig? Er überlegte, ohne die Tür aus den Augen zu lassen.
Für Anna war ja immer alles wichtig, und alles musste sofort erledigt werden. Anna kannte kein Morgen und kein Gestern, sie war immer im Jetzt. Immer in einem durch und durch persönlichen Jetzt.
Jetzt dies, jetzt jenes, aber war das nicht viel zu anstrengend, so zu denken, so zu leben? Jetzt, was für eine lächerliche Zeiteinheit, jetzt! Kurt Schmelz prüfte die Alternativen. Er könnte, jetzt, in seine Kanzlei gehen, die im größten Zimmer der Wohnung untergebracht war. Aber dort lagen keine dringenden Fälle mehr. Dort lagen überhaupt keine Fälle mehr. Schon vor einem Jahr hatte er die Erbschaftssachen an eine größere Firma abgegeben, die Testamente, die bei ihm in einem Safe gelegen hatten, waren alle weitergeben worden. Und sowieso, das Kanzleischild, das unten an der Haustür gehangen hatte, das war ja auch schon abgenommen worden. Was also sollte er in der Kanzlei? All die Akten zum tausendsten Mal durchgehen, ob alles mit ihnen in Ordnung war? Aber es war alles mit ihnen in Ordnung! Nach seinem Tod würden sie der anderen Kanzlei übergeben werden, und nach siebzig Jahren konnten sie dann alle vernichtet werden. Da hatte er es wieder, Vernichtung, immer wieder Vernichtung und Tod, Vernichtung und sein Tod!
Ob das bei alten Leuten immer so war, dass alle Gedanken letztlich doch immer zum eigenen Tod führten? Hatte er nicht gelesen, bei einem jungen Schriftsteller, jeder Mensch habe sowieso nur einen Gedankenstrang, dessen Anfang er nicht kenne und dessen Ende der Tod sei, der eigene. Aus diesem Strang könne der Mensch sich jederzeit Sätze, Wörter und ganze Kapitel herausklauben, aber die Richtung seines Denkens könne der Mensch nicht bestimmen. Die Richtung seines Handelns werde von seinem Denken bestimmt, das er nicht kenne. Dies wiederum hatte Kurt Schmelz überhaupt nicht gefallen. Er war Pragmatiker! Er schaffte Tatsachen und bestimmte mit ihnen das Denken!
Ans Ende dieses interessanten
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