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Letzte Haut - Roman

Letzte Haut - Roman

Titel: Letzte Haut - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthes und Seitz Verlag GmbH
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unmittelbarer Nähe dreier Tanten, die zusammen zwar sieben Töchter aber keine Ehe mehr hatten. Der Krieg, wie es immer so schön heißt, habe sie ihnen genommen. Diesmal war es der Krieg von neunzehnhundertvier, die Schlacht am Warterberg in Deutsch-Südwestafrika, derselbe Krieg, der den Vater meines Großvaters nur deshalb verschont hatte, weil er sich bei der Musterung stumm gestellt hatte. Stumm und taub. Noch Jahre später sprach er nur hinter verschlossenen Türen und zugezogenen Gardinen.
    Mein Großvater wurde im Juni des Jahres neunzehnhundertneun im hessischen Frankfurt geboren, an einem Tag, an dem es eines der stürmischsten Sommergewitter gegeben haben soll, die Hessen je erlebt hatte.
    Es regnete an diesem Tag aus Eimern, nur dass die Eimer groß wie Fässer waren. Alle elf Frauen, die ganze weibliche Verwandtschaft, brachten das Neugeborene unter Planen, die sie straff hielten, durch die Straßen Frankfurts, bugsierten alles durch die enge Hofeinfahrt, um über den Hof ins Haus zu kommen, wo der Vater meines Großvaters im vierten Stock am Küchentisch saß und darauf wartete, dass sich die Wohnungstür öffnete.
    Der Schnaps stand auf dem Tisch, die Gläser auch, alle seine Freunde waren im Streik geblieben, doch er vertraute einfach darauf, dass wenigstens einer der Kollegen kommen werde und mit ihm anstoße. Mindestens einer oder sogar alle zusammen, denn unter Männern sei es ja üblich, dass man sich auch ohne große Worte verstehe und einander vertraue.
    „Ein Junge! Ein Kurti!“, rief ihm eine der Tanten schon vom Flur aus entgegen, so der Vater nickte und alle acht Gläser mit Doppelkorn füllte. Er stand auf, ging ins Schlafzimmer, sah seiner Frau kurz ins erschöpfte Gesicht und nickte ihr anerkennend zu, bevor er an die Wiege trat, die er aus den Brettern von Obstkisten gezimmert hatte, die eigentlich fürs Anheizen der Öfen gedacht waren, mit denen das Gebäude der Preußischen Staatsbahn gewärmt wurde, in der er als Heizer im Rang eines Oberassistenten arbeitete, während die Frau als Aushilfe in einer Buchhandlung dazuverdiente. Sie kamen über die Runden, wie es immer so schön heißt.
    „Ein Junge also!“, sagte der Vater und sah in die Wiege: „Ein Kurt also! – Kein Kurti!“
    Und so ein zerknautschtes Gesicht, dachte er, so viele Falten! Soviel unnütze Haut! Als gäbe es eine zweite.
    Dies aber sagte er nicht laut. Die Möglichkeit einer zweiten Haut, der Vater hielt sie dem Sohn offen, solange er konnte. Er vermittelte ihm diesen Gedanken ohne große Worte. Unter Männern sei es üblich, mit Taten zu sprechen. Er sagte an diesem Tag überhaupt gar nichts mehr, ging wieder in die Küche und wartete auf seine Kollegen, die ja auch seine Freunde waren. Oder sollte er ebenfalls zum Streik gehen und dort seinen Mann stehen? War das wichtiger? Der Zwerg dort, der lief ihm ja nicht weg. Immerhin könnte er den Schnaps mitnehmen, und überhaupt, war es jetzt nicht viel zu eng in dieser Wohnung? All diese Frauen und Mädchen. Er glaubte, diese Gemeinschaft schiebe ihn geradezu raus. Wie hieß es doch so schön in dieser Oper? ‚Der Mohr hat seine Schuldigkeit getan, der Mohr kann gehen.‘ Und so ging er eben. Reisende solle man nicht aufhalten.
    Zwar fragte er sich noch einmal direkt, was wohl wichtiger sei, er ging zwar gedanklich noch einmal zurück zur Entscheidung, doch sei diese ja schon in dem Augenblick gefallen, in dem er in die Küche gesehen und den leeren Tisch mit den vollen Gläsern gemustert habe. Und noch ehe er sich recht versah, waren die acht Gläser leer und die Erkenntnis in ihm gereift, dass ab jetzt gar kein Platz mehr für ihn in dieser Wohnung sei. Die Bettstelle im Schlafzimmer habe er ja schon für den Sohn räumen müssen. Und nun also auch den Küchentisch.
    Dem Sohn müsse geopfert werden, meinte der Vater, wie Männer immer denken, wenn sie zu Tätern werden. Er meinte, er müsse opfern. Der Sohn habe ihn verdrängt. Kurt sei der Mittelpunkt, der Mond aber sei in der Hauptsache kalt.
    „Verwöhnt mir den Jungen nicht!“, sagte er also auf dem Flur: „Ich vertraue ihn euch an. Verheizt ihn mir nicht.“
    Mehr soll er damals nicht gesagt haben, als er ging und nicht mehr zurückkam: Verheizt ihn mir nicht.
    Könnte so nicht der Schulaufsatz meines Enkels über mich beginnen, dachte der zweiundsiebzigjährige Schmelz in seiner dunklen Wohnung, sofern ich einen Enkel hätte.
    Er lag mit geschlossenen Augen auf dem Flurläufer, vermied jegliche

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