Letzte Haut - Roman
ausgeliefert, die Regierung muß intervenieren! Erschütternde Berichte über das furchtbare Los der gefangenen Journalisten gingen hinaus in die Welt. Geld wurde für sie gesammelt. Befreiungskomitees wurden gegründet, sensationelle Fluchtversuche organisiert. Unterdessen ging die Werbung um Sympathie für die Aufständischen weiter. Ihre Taten wurden glorifiziert. Ihr Kampf galt der Sache der Freiheit und der Demokratie. Erinnerungen an den eigenen Freiheitskampf wurden wieder lebendig gemacht. Aufrufe erschienen für die Aufstellung und Ausrüstung von Hilfsexpeditionen. Sie hatten Erfolg. In den Vereinigten Staaten lebende Cubaner, amerikanische Abenteurer und Fanatisierte versuchten auf Cuba zu landen. Vielen gelang es. Viele fielen in die Hände der spanischen Behörden. Kerkerstrafen und Todesurteile waren die Sühne. Das erste Blut war nun geflossen. Die Öffentlichkeit wurde mobil gemacht, Parlament und Senat bestürmt. Die Regierung mußte Vorstellungen erheben. Spanien erwiderte mit Vorwürfen hinsichtlich der amerikanischen Untätigkeit gegenüber den Versuchen der Freischärler. So kam der Notenkrieg zwischen den beiden Regierungen in Gang. Zur besseren Überwachung der Küsten seiner cubanischen Besitzungen sieht sich nun Spanien genötigt, Kreuzer in die dortigen Gewässer zu entsenden. Neue Alarmstufe! ‚Spanien rüstet zum Kriege!‘ ‚Wenn wir nicht sofort zuschlagen, dann …‘ ‚Der Krieg steht unmittelbar bevor!‘ Unbeabsichtigte Verletzungen der amerikanischen Hoheitsgewässer ereignen sich. Proteste und Gegenproteste hageln. In diese Situation platzt die nie aufgeklärte Explosion der ‚Maine‘, und der Krieg ist da. Dieser Krieg, der gegen den Willen der Regierungen, ohne daß irgendwie lebenswichtige Interessen Amerikas auf dem Spiel gestanden hätten, von der Propaganda erzwungen worden ist, hat die Hoffnung der beiden ihn betreibenden Zeitungsunternehmen voll erfüllt. Schon während des Schürens des Konflikts hat Pulitzers’ ‚World‘ ihren Absatz von 15 000 auf über 820 000 steigern können, während das ‚Journal‘ Hearsts eine Zunahme bis zu 2,5 Millionen buchte …“, schrieb mein Großvater sechsunddreißig und deckte so auf, dass die Propaganda die Wurzel und der Krieg selbst der Stamm sei.
Mein Großvater, Kurt Schmelz, definierte warnend den Begriff der Kriegspropaganda: „Für die Kriegspropaganda ist es nicht wesentlich, daß sie sich als solche bezeichnet. Zu Beginn ihres Wirkens wird sie im Gegenteil Sinn und Zweck des Propagandainhalts verschleiern. In einem bestimmten Abschnitt ihres Ablaufes kann sie sogar die Sachlage scheinbar in ihr Gegenteil verkehren, indem sie sich als Propaganda für einen wirklichen, dauerhaften, endgültigen Frieden ausgibt. (Der allerdings nur über den Umweg des Krieges erreicht werden kann.)
Erst bei den Endstufen ihrer Tätigkeit appelliert sie an die Gewalt der Waffen und wird dann zur eigentlichen Kriegshetze.
Die Propaganda braucht auf ihr Ziel, den Krieg, nicht unmittelbar zuzusteuern. Sie kann ihn auch auf Umwegen erzwingen. Es genügt die Schaffung einer derartigen psychologischen und politischen Situation, daß der Krieg unvermeidbar wird.
Die Kriegspropaganda bedient sich einer Unzahl von Methoden, die, so uneinheitlich, widerspruchsvoll und variabel sie auch scheinen, folgendes gemeinsam haben: Sie richten sich gegen einen bestimmten Gegner, sind geeignet, den Kriegserfolg in einer absehbaren Zeit herbeizuführen, und hierfür gewollt. (Begriff der Kriegspropaganda.) Diese Methoden bestehen stets in der Erregung vitaler Leidenschaften, elementarer Triebe und Instinkte, die schließlich das gesamte Denken, Fühlen und Wollen beherrschen und so automatisch zu einem zerstörenden Handeln drängen.“
Am vierten Februar sechsunddreißig wurde der Leiter der NSDAP Landesgruppe Schweiz von D. Frankfurter erschossen, am sechsten eröffnete der Anführer der Deutschen die Olympischen Winterspiele in Garmisch Patenkirchen und am fünfzehnten die Zehnte Internationale Automobilausstellung in Berlin, wobei er den Bau des Volkswagens ankündigte, und am zwanzigsten Februar sechsunddreißig verbot die Schweiz die Landes- und Kreisleitungen der NSDAP, während Kurt Schmelz an diesem Tage das Rigorosum absolvierte. Es war das Jahr, in dem das Rheinland von der Wehrmacht besetzt und der Reichstag aufgelöst wurde.
Bei den Neuwahlen wurde der alte Anführer der Deutschen auch wieder der neue, wurde er doch von neunundneunzig
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