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Letzte Haut - Roman

Letzte Haut - Roman

Titel: Letzte Haut - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthes und Seitz Verlag GmbH
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riss sich immer größere Fetzen Haut vom Leib. Er ekelte sich, er ekelte sich vor seiner eigenen Erinnerung.
    Er hatte Kaltenbrunner dazu gebracht, ihn zu loben! Und auch wenn er später in den Nürnberger Prozessen ausgesagt hatte, auch wenn er dort dessen stumpfen Blick gesehen hatte, nein, das war keine Wiedergutmachung! Kurt Schmelz, es gab Dinge, die waren nicht wiedergutzumachen, schon gar nicht mit Worten! Es gab Taten, die unverzeihlich waren. Ein Lob von Ernst Kaltenbrunner, dem obersten Schlächter, das war schlimmer als das Schlimmste, Schmelz, wie hast du das nur verdrängen können, dachte er, reiß dir, verdammt noch mal, die Haut vom Körper und nagele sie ans Fensterkreuz, damit die Krähen sie zerfetzen können wie die Adler die Leber des Prometheus. Denn Sühne besteht nicht aus Worten! Sühne besteht aus Taten! Aus Taten!
    Vom klapprigen Stuhl aufgestanden war der alte Schmelz und mit zerbissenen Lippen wankte er durch den Flur, deutlich erinnerte er sich, wie er Himmler persönlich die Liste mit den bei Koch gesicherten Gegenständen überreicht hatte, stolz. Stolz und erhaben hatte er sich gefühlt, Schmelz sah es vor sich, und er drehte sich um sich selbst, verbog sich den Körper und wühlte überall dort mit den Fingerspitzen im Fleisch herum, wo keine Haut mehr war.
    Kräftig riss er am Fleisch, das zwischen den Rippen war, kratzte an den Knochen, dass es ihm im Hirn widerhallte. Er war von Sinnen, und er besann sich.
    Das war sein eigener Stolz gewesen, als er den Reichsführer der SS Heinrich Himmler zum Erstaunen gebracht hatte, sein eigenes Gefühl war das gewesen! Himmler hatte bei seinem Bericht den Atem angehalten, hatte vergessen, den Mund zu schließen, und hatte geglotzt, geglotzt wie ein dummer, verängstigter Schuljunge, der hoffte, der große Schulmeister würde endlich mit der Predigt aufhören. Aber damals hörte er nicht auf. Er bestand aus all den großen Gefühlen, und er fühlte sich unbesiegbar, da er die Angst sah. Diese Angst hinter den dicken Brillengläsern! Und er hatte sogar Mitleid mit Heinrich Himmler empfunden, Mitleid! Mitleid und Stolz, das war doch unfassbar! So edel hatte er sich gefühlt! Das waren echte und wahre Gefühle gewesen! Er hatte sie damals zugelassen! Und heute? Jetzt kamen sie hervor und juckten unter der Haut.
    Nur Oswald Pohl hatte seinen Gefühlen damals ebenfalls freien Lauf gelassen. Er hatte weder auf Himmler noch auf Kaltenbrunner Rücksicht genommen. Pohl hatte ihn niederbrüllen wollen, aber er war nicht einen Schritt gewichen. Oh ja, er war an diesem Tage ebenbürtig gewesen, er hatte die Drohungen Pohls, er würde ihn selbst ins KZ stecken, er würde ihn persönlich zur Gestapo schleifen, er würde ihn an der Ostfront versauern lassen, er würde ihn des Verrats, des Verrats an der Organisation, bezichtigen und zum Tode verurteilen lassen, abprallen lassen, einfach abprallen lassen.
    Pohl würde dafür sorgen, dass er die SS nicht weiter gefährde, das alles ließ er abprallen von sich, bis Pohl sich, weiß vor Zorn, verriet und schrie: ‚Was kümmern mich die Menschen, wenn ich Millionen machen kann!‘
    ‚Dich?‘ hatte der lauernde Kaltenbrunner sofort gefragt: ‚Dich?‘
    Und Himmler hatte seinen alten Kumpanen, dessen organisatorische Fähigkeiten er so schätzte, böse angefunkelt.
    ‚Ja, ich. Ich! Wer denn sonst? Wer hält hier denn alles am Laufen? Du etwa, du Schnösel. Wirtschaft geht vor Sicherheit, das kannst du dir ruhig mal merken‘, hatte Pohl Kaltenbrunner fertig zu machen versucht, aber dieser war darauf nicht eingegangen und hatte lediglich gesagt: ‚Obersturmführer Schmelz hat ausschließlich auf meinen Befehl hin gehandelt. Er hat diese unverfrorene Schweinerei aufgedeckt, und wenn sich das alles bestätigen und bei einem Geheimprozess beweisen lässt, dass dein Freund, Pohl, dein Freund Koch ein dreckiger Verräter an unserer Sache ist, dann ist Schluss mit lustig! – Ich schlage Schmelz für eine Beförderung vor, Reichsführer!‘
    Oh nein, dachte der alte Doktor Schmelz. Er stolperte im Flur und stürzte auf den staubigen, verschmutzten und abgetretenen Teppich. Er wälzte die offenen Wunden im Dreck und schrie, voll von bösen Vorahnungen. Mit den Augen schrie er aus Leibeskräften, es komme noch härter. Es kommen härtere Stunden.

BERUFEN

Von Männern lernt man, Vertrauen zu haben, von Frauen hingegen, wie man es bricht. Aufgewachsen ist mein Großvater Kurt Schmelz als Einzelkind, jedoch in

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