Letzte Haut - Roman
Bewegung, während er in seiner Vergangenheit herumwühlte. Herumwühlte, um aber was zu finden? Was? Kurt Schmelz atmete aus. Nein, es ging ja gar nicht ums Was, es ging ja immer nur ums Wie.
Mein Großvater Kurt Schmelz wuchs also ohne Vater und unter elf Frauen und Mädchen auf, und so konnte er es gar nicht erwarten, als er nach dem halbjährigen Volontariat im Bankhaus Goldschmid zu Frankfurt am Main endlich in die Welt hinausziehen konnte, um zu studieren.
In der Zeit der großen Massenarbeitslosigkeit zwischen den Weltkriegen studierte er eisern das Fach Weltwirtschaftsrecht; in Berlin, kurz in Frankfurt, in Rom, in Den Haag und in Kiel.
Monatlich musste er mit hundertfünfzig Mark auskommen, was natürlich nicht ging, weshalb er nebenher noch arbeitete, während seine Kommilitonen sich in Verbindungen herumschlugen. Und während sie Seilschaften bildeten, wurde er zum großen Einzelgänger und zum besten Studenten Deutschlands.
Wie sein Vater, der ihm unbekannt blieb, war er schweigsam, sehr schweigsam, aber das Schweigen hatte immerhin den Vorteil, alles sagen zu können.
Seine Umgebung bekam immer mehr Angst vor seinem Blick, eine große Unerträglichkeit legte sich um ihn und breitete sich aus, denn sobald man ihm in die Augen sah, wurde man von tausenden Wörtern niedergerannt. Eine Aura schützte ihn vor Angriffen. Mein Großvater hatte sie einmal seine zweite Haut genannt.
Ein anderes Mal meinte er, er habe während des Studiums weltumfassend zu denken gelernt, während sein Land in der Weltwirtschaftskrise versunken sei. Sein Leben sei immer gegensätzlich des öffentlichen Lebens verlaufen, und so etwas könne man sich nicht aussuchen, so etwas sei Schicksal, denn Schicksal sei das Gegenteil von Zufall.
Wie jeder Muttersohn war auch er umtriebig, ein Getriebener, ein unverwüstlich Reisender. Mein Großvater konnte von heute auf morgen Verbindungen abbrechen und neue aufbauen, um sie dann wieder nur zu beenden. Beziehungen fanden bei ihm nur als Nichtbeziehungen, als Unbeziehungen, als Sehnsüchte statt.
Er meinte zwar immer, er habe nie Gefühle investiert, weil er nicht wisse, dass es Gefühle gebe, aber wenn er dies sagte, dann grinste er auch immer, so dass man nie wusste, was man davon halten sollte. Ihm zu vertrauen war also schwer. Er schützte sich davor, Beziehungen eingehen zu müssen. Er ließ sich nie in die Karten blicken, doch manchmal kam es einem auch so vor, als habe er gar kein Blatt zum Ausspielen. Wie lange kann ein Mann einen Bluff durchhalten, wenn sich der Einsatz Runde um Runde erhöht? Wann verliert er die letzte Haut und wann das ganze Gesicht?
Die Mundwinkel des alten Schmelz’ verzogen sich nach oben, während der Rest seines Gesichts starr blieb. Die Wangen schmerzten, er ließ die Winkel wieder fallen.
Gefühle, die er hegte, wurden ihm von den Frauen, unter denen er aufwuchs, verboten. Sie bekämpften seine Gefühlswelt, ohne zu wissen, dass sie es taten. Sie wollten ihn einfach nach ihrem Vorbild erziehen und übersahen beflissen, dass er kein Mädchen war. Während er unter ihren unbewussten Handlungen also litt, reifte sich in ihm die Gewissheit aus, dass nur bewusstes Handeln eine männliche Tat sei. Und wie gern wollte er doch ein Mann sein, der Tatsachen schafft, der immer wieder Tatsachen schafft, von denen man in Kneipen redet, in Kneipen und auf Familienfesten.
Hätte es einen Vater gegeben, an den sich der Sohn hätte anlehnen können, hätte es einen Vater gegeben, der die Frauen in ihrer unmenschlichen Fürsorge in die Schranken verwies, dann wäre aus meinem Großvater bestimmt ein vollkommener Mensch geworden. So aber fühlte er sich immer nur als halber Mensch, der sich vor dem freiwilligen Betreten der weiblichen Welt lange hütete.
Es war also kein Zufall, dass er zum besten Studenten seines Jahrganges in ganz Deutschland wurde, es war also Schicksal. Es war das Schicksal, das der Vater durch sein Nichthandeln dem Sohn hinterließ, indem er ihn schnöde und feige mitten in der Allmacht der weiblichen Welt allein ließ, aus welcher der Sohn aber floh, sobald er konnte. Fliehende sind eben schwer aufzuhalten, manchmal erst mit dem Tod.
Als er mit zweiundvierzig Jahren dann doch noch heiratete, war er müde geworden vom Leben. Er nahm ein Mädchen zur Frau, das gerade erst zweiundzwanzig Jahre geworden war. Von ihr hatte er nichts zu befürchten, erst später, als ihr aufging, sie werde niemals zur Mutter gemacht werden, keimte in ihr ein
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