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Letzte Haut - Roman

Letzte Haut - Roman

Titel: Letzte Haut - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthes und Seitz Verlag GmbH
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würde niemals enden. Dieser Marsch mit Männern sei das wahre Leben, meinte er, dieser Gleichschritt sei wahres Leben. Diese Spur in den Spuren.
    In Kirovo, einem kleinen Dorf, war auch er genötigt, sich das Gewehr von der Schulter zu reißen und auf eine Horde anstürmender Jugendlicher zu schießen, doch das Marschtempo verringerte auch er deswegen noch lange nicht. Auch der Norweger schoss, auch der Rücken vor ihm, und selbst der ausschreitende Kanonier Köppen schoss, und zusammen wehrten sie zwar den Angriff der Jungen ab, noch ehe diese dicht genug an sie herangekommen waren, um mit ihrer wenigen Kraft die gezogenen Handgranaten zu werfen, doch keiner der Männer setzte deswegen den Marschrhythmus aufs Spiel. Sie hielten ihn, und auch Sturmmann Schmelz marschierte beim Töten weiter. Weiter!
    Und auf dem Dorfplatz von Ivanoko, beim Marschieren durch die Ortschaft bekam Sturmmann Schmelz es kaum mit, dass ein Mann vor ihm eine Eiergranate in eine Gruppe alter Menschen warf, weil er dessen Jammern einfach keine Minuten länger mehr aushalten konnte. Das Jammern erstarb, doch der Marsch geriet nicht ins Stocken; weiter. Weiter!
    Doch woran dachte Sturmmann Schmelz beim Marschieren, solange er noch denken konnte im Marsch? Vielleicht, die Befehle seien immer einfach. Sie lauten, gehe dahin, gehe dorthin, tue dies, tue das. Der Marsch sei so wichtig für einen Soldaten, der Marsch trenne ihn ab vom eigenen Denken, vom eigenen Willen, von der eigenen Vergangenheit, und der Marsch trenne ihn sogar ab von den eigenen Träumen. Alsbald träumen die Marschierenden kollektiv, das sei ein Phänomen, das überall eingetreten sei, wo viele Männer lange marschiert seien. Der durchs Marschieren Aufgelöste folge jedem Befehl, solange er einfach formuliert sei, und umso williger, sofern der Befehl von einer Propaganda vorbereitet worden sei. Durch sie erscheine alles erst als Muss, das höchstens ein Soll sei, allerhöchstens ein Soll. Der Marsch, der das Individuelle zurücklasse, mache aus den Männern Kinder, die sich stolz Soldaten nennen dürfen und die stolz mit dem Feuerzeug des Onkels spielen dürfen, der kein guter Onkel sei, weil er die Jungen mit dem Feuerzeug verführe. Er sage nur, er wäre ein guter Onkel, und diese Propaganda sei noch gefährlicher, wenn sie mit dem Marsch kombiniert werde. Vielleicht dachte Sturmmann Schmelz so oder ähnlich, vielleicht dachte er, lasse ein Volk eine Kriegspropaganda über sich ergehen, die fast schon religiös sei, wie ja auch jede Religion Propaganda sei, und schon habe dieses Volk verloren, noch ehe es einen einzigen Schuss getätigt habe. Kriegspropaganda dürfe niemals zugelassen werden, niemals, denn sobald ein Präsident oder Führer zur Verteidigung einer Sache aufrufe, so rufe er in Wahrheit zur Ausrottung eines anderen Volkes auf.
    Egal mit welchen Worten, dieser Präsident oder Führer wolle den Männern das Gewissen rauben, die Selbständigkeit und die Fähigkeit zum eigenen Denken. Er wolle sie zu marschierenden Tieren machen, zu tötenden Maschinen wolle er sie machen, zu kopflos Willigen.
    Kriegspropaganda vernichte die Eigenständigkeit und mache das, was übrigbleibe, zu einem Willigen, zu einem Marschierenden, zu einem Unmenschen; vielleicht dachte Sturmmann Schmelz so, während er bei jeder Silbe einen Fuß vor den anderen setzte, auf fremder Erde, und vielleicht ließ er den Gedanken freien Lauf, ohne sich kümmern zu müssen über Logik und Wahrheit.
    Vielleicht ließ er die Gedanken laufen, wie auch er ja laufen gelassen wurde, marschierend. Die grenzenlose Macht der Gemeinschaft, die sich um den kleinsten gemeinsamen Nenner schere, um das Wort eines Anführers, um den Befehl eines Hanswurstes. Es sei die blinde, harte, weibliche Erziehung, dem Wort des Vaters unbedingt Gehorsam leisten zu müssen, sie sei der fruchtbare Boden für jede Propaganda und für jede Religion. Der freie Mensch kenne weder Religion noch Propaganda, der freie Mensch kenne die Stärke des Selbst und die Einsamkeit des Ichs. Der freie und moderne Mensch sei eine Insel, die durch nichts mit anderen Inseln verbunden sei, die keine Verbindung zum Erdboden habe, eine Insel eben, die treibe, eine Insel, die getrieben werde, vielleicht umkreisten die Gedanken des Sturmmann Schmelz ja so oder ähnlich die Leere der Landschaft: Der moderne Mensch sei eine marschierende Insel im vollgestopften Ozean.
    Schon wer einer Kriegspropaganda zuhöre oder sie auch nur dulde, der mache sich

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