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Letzte Haut - Roman

Letzte Haut - Roman

Titel: Letzte Haut - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthes und Seitz Verlag GmbH
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du? Salzwasser wäre ja für die Füße tödlich gewesen, aber Süßwasser! Zum Glück! Süßwasser, ich kam mir vor wie ein verdurstendes Tier. Und ja, ich sah das Asowsche Meer, ich überlebte diesen Gewaltmarsch! – Am Anfang waren wir neunzehntausenddreihundertsiebenundsiebzig Männer, und am Ende waren noch achtzehntausendneunhundertvierundsechzig Männer übrig. Frag nicht mich, wo der Rest geblieben ist, frag Hauptsturmführer Mann oder Obergruppenführer Steiner! Meine Vermutung allerdings ist, dass sich unser Divisionsarzt Doktor Mengele um die Erschöpften gekümmert hat.‘ – Und wie der sich gekümmert hat, das weiß man heute ja. Oder? – Ich meine, vergiss nicht, die Wikinger, das waren fast alles keine Deutschen! – Begreifst du, Kurt Schmelz, begreifst du, he, sieh mich, verdammt noch einmal, an, wenn ich mit dir rede, dachte der zweiundsiebzigjährige Schmelz, der noch immer auf dem Boden des Flurs hockte, auf den eingeschlafenen Arm gestützt, und in den vom Blut verschmierten Spiegel starrte, aus dem ihn große, blöde Augen anglotzten, als gehörten sie zu einem Kleinkind: Begreifst du? Begreifst du endlich?
    Die Männer marschierten im Eiltempo. Gewaltmarsch. Keine Sekunde, die verloren gegeben wurde. Gewaltmarsch. Keine Minute, die aufgegeben wurde. Weiter, Gewaltmarsch, weiter, eine lange Reihe von Männern, die sich durch das fremde Gelände zog. Ein Mann hinter dem anderen, wer eine Lücke ließ, wurde ausgesondert, wer eine Lücke ließ, wurde zurückgelassen, wer eine Lücke ließ, der wurde erschossen. Lücke lassen war Hochverrat am deutschen Volk, wer eine Lücke ließ, beging Verrat an der deutschen Sache, lass keine Lücke, Sturmmann Schmelz, lass um Gottes Willen bloß keine Lücke, dachte er immer wieder.
    Und Sturmmann Schmelz ließ keine Lücke, nicht ein einziges Mal, er marschierte, er wurde Mann unter Männern. Der Rücken seines Vorgängers wurde ihm zum Horizont, zu dem er akribisch den Abstand einer Armlänge hielt, im Gleichschritt, er marschierte im Gleichschritt, aus eigenem Antrieb, um nicht über die Hacken des Vordermanns zu stolpern, doch wurde er fuchsteufelswild, wenn ihm sein Nachfolger in die Hacken trat, und ja, einmal, einmal reichte es ihm, zwischen Vasilkovka und Huliapole, auf einem der matschigen Felder, da reichte es ihm, und er zerrte im Marschieren die Pistole aus dem Halfter, entsicherte sie im Marschieren, drehte sich um im Marschieren und hielt die Mündung im Marschieren dem Norweger an die Stirn. Ein einziges Mal starrte er dem stämmigen, aber kleineren Mann in die Augen, ganz von Wut erfüllt, bis der Mann zu heulen anfing und mit den Augen flehte.
    Sturmmann Schmelz schoss nicht, er drehte sich im Marschieren um und steckte die Waffe wieder ein. Nicht ein einziges Mal trat der Norweger ihm mehr in die Hacken.
    Sturmmann Schmelz marschierte, marschierte in einem Trupp Marschierender, löste sich mit jedem Tritt mehr im Marsch auf, im Marsch, der sie zusammenhielt, die da durch ein fremdes Land marschierten und es längst aufgegeben hatten, sich Namen von Orten und Landschaften zu notieren, in welchen sie nach dem Krieg siedeln wollten. Sie marschierten, und mit jeder marschierten Stunde verstand der marschierende Sturmmann Schmelz besser, warum so viele diesen Marsch mitmachten, den sie Krieg nannten.
    Dem Marschierenden wurde klar, dass die Auflösung sie zusammenhielt, die Auflösung des Einzelnen. Sie lösten sich auf in einen einzigen Marsch, die Sehnsucht nach Aufgabe ging in Erfüllung, der Weg war das Ziel, das Ziel war egal, Hauptsache war, dass das Marschieren, das Verschwinden des Einzelnen im Ganzen, voranschritt und nicht unterbrochen wurde. Marschieren, der Marsch war die wichtigste Regel unter Männern. Weitermachen, immer weiter weitermachen!
    Zwei Positionen vor ihm, Kanonier Köppen, wie der voranschritt, Sturmmann Schmelz hielt sich immer wieder an ihn, bewunderte ihn, wie er mit jedem Schritt ausholte, und zog sich quasi an dessen Tritt durch das flache Gelände dieser fremden Landschaft, in der es keine Wälder gab.
    Gehöfte, Dörfer, Gemeinden, selten sah er am Horizont eine Kleinstadt, doch fast nie blickte er auf. Fast nie hob er den Blick aus dem Marsch. Der Marsch war über ihn gekommen, nicht er hatte sich diesen Marsch ausgesucht, doch nun löste er sich auf in ihm, gab sich auf, meinte, der Weg sei das Ziel, meinte, das reiche, das werde schon reichen, und kurz vor Polohy wünschte er sich sogar, dieser Marsch

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