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Letzte Haut - Roman

Letzte Haut - Roman

Titel: Letzte Haut - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthes und Seitz Verlag GmbH
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strafbar. Hier fange das Vergehen an, genau hier, Wahlkampf sei ein Verbrechen, meinte Sturmmann Schmelz und ließ sich verwirrt ein paar Zentimeter zurückfallen, und der Anfang jeder Propaganda sei ein Versprechen oder ein Kompliment. Und war es etwa nicht so, dass der Anführer der Deutschen von allen deutschen Frauen gewählt worden war? Sturmmann Schmelz meinte ja, denn der Führer habe den Frauen eingeredet, deutsch zu sein, sei eine Auszeichnung. Er habe als erster die Macht der Frauen erkannt und sich ihrer bedient. Deshalb also durften Frauen so lange in den USA oder in der Schweiz nicht wählen, der marschierende Sturmmann Schmelz fand das interessant, sie waren nicht emanzipiert genug und jedem Kompliment hörig, egal wer es ausspreche. Die Frauen mussten um diese Verantwortung wissen, der marschierende Sturmmann Schmelz wollte sich das unbedingt merken, dass auch die Frauen begreifen mussten, was die Männer ja schon begriffen hatten, nämlich, dass nicht eine einzige Wahrheit von Rednerpulten tropfe. Sturmmann Schmelz, aufgewachsen unter lauter Frauen, hatte die Schuldigen ausgemacht. Sie waren es, die die Männer in den Krieg getrieben hatten, Sturmmann Schmelz war sich beim Marschieren völlig sicher. Die Frauen haben entschieden, zum ersten Mal. Medea sei auf die Erde gekommen, millionenfach zerreiße sie ihre Kinder und die der Anderen.
    Und Sturmmann Schmelz hielt Schritt mit den marschierenden Kameraden, aber er hielt nicht mehr Schritt mit dem eigenen Denken. Es verwirrte ihn, und schließlich begann sein Verstand sich im Kreis zu drehen, immer wieder tauchten dieselben Wörter auf, die gleichen Gedanken nutzten sich ab, und schließlich wurde alles Gedachte zu einem einzigen, Kilometer langen Gedankenstrich. Mit diesem Strich im Kopf stapfte er unerbittlich in die Spur des Vorgängers, schritt aus, regelmäßig, beständig und ohne den Kopf noch einmal zu heben. Er sah auf die nach vorn schnellenden Fußspitzen, amüsierte sich über ihr Auftauchen und vergaß, dass sie zu ihm selbst gehörten.
    Mal drückte er die Daumen unter die Gurte des Rucksacks oder des Gewehrs, mal verschränkte er die Hände hinter dem Rücken, um auf sie den Rucksack zu legen und so den Rücken zu entlasten. Er marschierte über abgebrannte Felder, durch matschige Bäche und Flüsse, er marschierte über Hügel und zerstörte wie alle im Vorbeieilen Dörfer, Gehöfte und kleine Städte. Er nickte ein beim Marschieren, torkelte, wurde vom Norweger wachgestoßen, er marschierte durch die härtesten achtundvierzig Stunden seines Lebens, und fast hätte er ein Gespräch mit den Fußspitzen begonnen, doch da ändere sich etwas, etwas war anders, begriff Sturmmann Schmelz.
    Sein Kopf lag plötzlich auf dem Rucksack des Vordermannes. Was war geschehen?
    Sie waren stehen geblieben.
    Er nahm den Kopf hoch, sah die Tausende von Männern, die sich fallen ließen, wo sie gerade waren, die einfach aufhörten zu marschieren, die umkippten, und deren Beine noch im Schlafen zuckten und weiterhin traten.
    Sie waren wohl da? Waren sie da?
    Mit wirrem Blick stierte Sturmmann Schmelz um sich, aber niemand erwiderte seine stumme Frage, überall ein einziges Fallen, und so fiel auch er auf den Boden und sank in einen tiefen Schlaf, ohne das Asowsche Meer gesehen zu haben, während an diesem späten Nachmittag des neunundzwanzigsten Septembers einundvierzig in der eroberten Stadt Kiew fünfunddreißigtausend Menschen jüdischen Glaubens von Deutschen verbrecherisch erschossen wurden, in Moskau eine Dreimächtekonferenz begann, der oberste Führer der Deutschen Sonderrechte für die Ukraine ablehnte und Kronstadt unter massive Luftangriffe der Deutschen geriet.
    Schon einen Tag später begann die deutsche Moskauoffensive.
    Die Schlacht an der Landzunge von Berdiansk ging als Irrsinn von Asow in die Geschichte meines Großvaters ein. Es begann schon damit, dass er sich wie gerädert fühlte, als er nach dem Gewaltmarsch geweckt wurde, obwohl er doch zehn Stunden ununterbrochen geschlafen hatte. Sturmmann Schmelz hatte unbeschreibliche Schwierigkeiten, auf die Beine zu kommen, und noch immer wagte er es nicht, sich die Stiefel auszuziehen, sah er doch bei den Kameraden, die es nicht mehr ausgehalten hatten, endlich aus dem durchgeweichten Leder zu kommen, was geschah, nachdem sie es getan hatten: Sie wurden verrückt.
    Erst einmal dauerte es eine qualvolle Stunde, bis diese Kameraden die Stiefel in winzigen Schüben und Stößen von den Füßen

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